Fussnoten

Fussnote 1 – Medienepochen

These

Das Leitmedium der nächsten Gesellschaft ist der Computer. Wie zuvor die Mündlichkeit, die Schriftlichkeit und der Buchdruck markiert auch der Computer den Übergang in eine neue Medienepoche.

Für die Beobachtung und Beschreibung historischer Entwicklungen gibt es unterschiedliche Perspektiven. Auch wenn wir im Folgenden den Begriff der Medienepochen einführen, nehmen wir keine Perspektive im Sinne der klassischen Geschichtsschreibung ein. Stattdessen interessiert uns im Rahmen der systemtheoretischen Kommunikations- und Medientheorie, wie gesellschaftliche Strukturveränderungen entstehen und wie diese als historische Einheit aufgefasst werden können.

˅ Medienepochen

Die Konturen des Konzepts der Medienepochen werden deutlicher, wenn wir zwischen Evolutionstheorie und Geschichtsschreibung unterscheiden (vgl. Luhmann, 1997, S. 569 – 576; 2005, S. 187 – 211).

Die klassische Geschichtsschreibung verbindet, grob gesagt, historische Erzählungen mit kausalen Erklärungen, um neues Wissen über gesellschaftliche Entwicklungen zu generieren. Im Gegensatz dazu geht die Theorie der soziokulturellen Evolution von zirkulären Prozessen aus, die zu Veränderungen in sozialen Systemen führen.

Während die Geschichtsschreibung auffällige Ereignisse anhand der Differenz von vorher und nachher beobachtet und die Einheit dieser Differenz als historische Ereignisse oder Epochen beschreibt, konzentriert sich die Evolutionstheorie auf die Bedingungen für und die Folgen der Veränderung von Strukturen in sozialen Systemen. Damit erreicht sie nicht dieselbe theoretische Leistung wie die Geschichtsschreibung. Dennoch kann sie durch das Aufzeigen bestimmter Zusammenhänge einen Beitrag zur Geschichtsschreibung leisten.

Die Evolutionstheorie im systemtheoretischen Sinne beobachtet und beschreibt die Entwicklung sozialer Systeme wie Gesellschaft, Organisation und Interaktion. Als operativ geschlossene autopoietische Systeme reproduzieren sich soziale Systeme in der Gegenwart. Für ihre blosse Reproduktion benötigen sie keine Geschichte, also keine historische Differenzierung von vorher und nachher. Damit die Reproduktion dennoch in erwartbaren Bahnen verläuft, benutzen soziale Systeme ein Gedächtnis. Es prüft anlaufende Operationen auf ihre Konsistenz mit vergangenen Operationen. In diesem Sinne orientieren sich soziale Systeme immer an der unmittelbaren Vergangenheit und der gegenwärtigen Zukunft.

Ausgehend von dieser knappen Beschreibung sozialer Systeme können wir den Unterschied zwischen Evolution und Geschichte vertiefen (vgl. Luhmann, 2005, S. 193 – 198).

Die allgemeine Evolutionstheorie abstrahiert davon, dass evoluierende Systeme zu jedem Zeitpunkt ihrer Entwicklung in einem vollständig konkretisierten Zustand existieren. Demgegenüber vertritt die soziokulturelle Evolutionstheorie die Auffassung, dass Evolution nur im Anschluss an konkrete Systemzustände stattfinden kann. Diese Auffassung führt zur Unterscheidung zweier Beobachtungsebenen.

In der aktuellen Gegenwart reproduzieren soziale Systeme ihre Strukturen, indem sich ihre Operationen an der unmittelbaren Vergangenheit und der gegenwärtigen Zukunft orientieren. In einem Interaktionssystem beispielsweise schliessen innerhalb eines Themas Redebeiträge fortdauernd an Redebeiträge an. Die durch die unmittelbare Vergangenheit bestimmte Wirklichkeit des Systems eröffnet immer wieder neue Anschlussmöglichkeiten in der gegenwärtigen Zukunft.

Die Wirklichkeit garantiert, dass nicht alles auf einmal geändert wird. Vor dem Hintergrund der Einheit der Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit sichert die Autopoiesis immer die Kontinuität und die Diskontinuität eines Systems. Das Interaktionssystem kann bei einem Thema bleiben oder es wechseln. Auf dieser Beobachtungsebene des operativen Vollzugs der Autopoiesis können soziale Systeme nicht eigenständig evoluieren. Dennoch bieten die Strukturen sozialer Systeme Raum für evolutionäre Veränderungen.

Wechseln wir die Beobachtungsebene auf die Evolution, so stellen wir zunächst fest, dass soziale Systeme ihre Strukturen allein aufgrund von Irritationen in ihrer Umwelt verändern. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Einführung des Computers, die zu tiefgreifenden Veränderungen in der Umwelt von Kommunikationssystemen geführt hat. Der Computer ermöglicht in Interaktionssystemen eine Kommunikation unter abwesenden Anwesenden, bei der die Teilnehmenden zwar physisch abwesend, aber über Computer kommunikativ verbunden sind. Diese neuen Möglichkeiten können zu strukturellen Veränderungen in Interaktionssystemen führen.

Wenn historische Entwicklungen nicht als Einheit kausaler Prozesse, sondern als Einheit der Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit aufgefasst werden, eröffnen sich neue Perspektiven auf die Evolution sozialer Systeme. Der Begriff der Kontingenz spielt dabei eine zentrale Rolle. Er verdeutlicht, dass weder die Wirklichkeit (nichts ist notwendig) noch die Möglichkeit (nichts ist unmöglich) kausal determiniert sind, sondern das Ergebnis von Selektionen sind. Damit wird betont, dass das Wirkliche auch anders möglich sein könnte. Dementsprechend eröffnet computervermittelte Interaktion unter abwesenden Anwesenden ganz neue Möglichkeitsspielräume.

Da die elementare Operation sozialer Systeme die Kommunikation ist, findet Irritation im Medium der Sprache statt. In der vermittelten Interaktion, um im Beispiel zu bleiben, ist die wechselseitige Wahrnehmung der Teilnehmenden stark eingeschränkt oder gar nicht möglich. Dies erhöht den Druck, implizite Mitteilungen sprachlich zu explizieren. Da die Erwartungsstrukturen hierfür noch nicht entwickelt sind, können entsprechende Mitteilungen zu Irritationen führen. Selegiert das Interaktionssystem solche Mitteilungen und entscheidet daraufhin, dass strukturelle Veränderungen im System vorgenommen werden müssen, dann findet Evolution statt. Solche kleinen Schritte können im Prozess der soziokulturellen Evolution zu grossen evolutionären Errungenschaften führen.

Evolutionäre Errungenschaften zeichnen sich durch zwei Bewertungskriterien aus. Zum einen müssen sie zur Lösung von Problemen geeignet sein. Die Einführung der Schrift vor etwa 5000 Jahren diente zunächst der Speicherung von Informationen, bevor sie sich auch zur Kommunikation unter Abwesenden etablierte. Zum anderen müssen sie einen evolutionären Vorteil bieten, der sich durch die Reduktion von Komplexität zur Steigerung einer höheren Ordnung von Komplexität auszeichnet. Die Schrift reduzierte Komplexität, indem sie die Überlieferung von Informationen vereinfachte und die Beschränkungen der mündlichen Kommunikation unter Anwesenden aufhob. Dadurch wurde eine Ausweitung der Kommunikation über grössere räumliche und zeitliche Dimensionen möglich.

Bemerkenswert an den evolutionären Errungenschaften ist, dass sie oft nicht direkt zur Lösung eines bereits bekannten Problems beitragen, sondern dass sowohl die Probleme als auch die Lösungen erst mit der Errungenschaft selbst entstehen. Wenn die Schrift, ursprünglich zur Speicherung von Informationen eingeführt, auch für Kommunikationszwecke genutzt wird, führt dies beispielsweise zum Problem der sogenannten Selbstautorisation des Geschriebenen. Es musste also eine neue Form der Glaubwürdigkeit geschaffen werden, die unabhängig von der physischen Anwesenheit des Schreibenden gilt.

Wenn es «epochemachende» Errungenschaften gibt, dann sind es nach Luhmann (1997, S. 515) die Verbreitungsmedien der Kommunikation (Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Buchdruck, Computer) und die Formen der Systemdifferenzierung (Segmentierung, Zentrum/Peripherie-Differenz, Stratifikation, funktionale Differenzierung). Luhmann betont, dass sich aus diesen Unterscheidungen nicht unmittelbar Epochenstrukturen ableiten lassen. Gleichwohl würden die Zusammenhänge zwischen Verbreitungsmedien und Systemdifferenzierung dazu verleiten, bestimmte Epochenstrukturen zu interpretieren. Mit groben Vereinfachungen könnte ein Beobachter dann verschiedene Kulturen und Differenzierungsformen unterscheiden.

Baecker (vgl. 2007, 2018) hat das Konzept der Medienepochen in seinen Studien und Schriften weiterentwickelt. Dabei betont er immer wieder den heuristischen Wert der Hypothese, dass die Einführung eines neuen Verbreitungsmediums sowohl die Struktur- als auch die Kulturformen der Gesellschaft verändert und damit einen evolutionären Prozess der gesellschaftlichen Neugestaltung auslöst. Auch ihm geht es nicht um Geschichtsschreibung im klassischen Sinne. Das Konzept der Medienepochen dient vielmehr dazu, ein tieferes Verständnis für den Transformationsprozess zu gewinnen, mit dem wir es auf der Schwelle zur nächsten Gesellschaft zu tun haben.

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Die Gesellschaft ist die Gesamtheit aller Kommunikationen. Wenn sich ein neues Verbreitungsmedium als evolutionäre Errungenschaft durchsetzt, verändert es auch die Kommunikationsstrukturen und ermöglicht dadurch eine Neugestaltung der Gesellschaft. Um die Funktion und die Wirkungsmacht der Verbreitungsmedien besser zu verstehen, müssen wir sie näher betrachten.

Verbreitungsmedien sind keine Kanäle, durch die Informationen wie Objekte von einem Sender an einen Empfänger übertragen werden (vgl. Luhmann, 1984, S. 193-194). Die Informationsverarbeitung ist ein interner Prozess psychischer und sozialer Systeme. Kommunikation entsteht durch einen Selektionsprozess von Information, Mitteilung und Verstehen. Sie benötigt ein «System höherer Ordnung» (Luhmann, 1997, S. 194), das freiwillige Kontakte zwischen Personen ermöglicht – dieses System ist die Gesellschaft als das umfassendste Kommunikationssystem.

Da die Metapher der Übertragung im Zusammenhang mit Verbreitungsmedien wenig plausibel erscheint, wird sie in der soziologischen Systemtheorie durch die Unterscheidung von Medium und Form ersetzt. Diese Abkehr von der ontologischen Suche nach dem zu übermittelnden «Etwas» hin zur Differenz von Medium und Form ermöglicht eine komplexere Betrachtung des Kommunikationsprozesses.

˅ Medium und Form

Kommunikation ist das Prozessieren der Differenz von Medium und Form. Was das genau bedeutet, werden wir in diesem Unterkapitel klären (vgl. Luhmann, 1997, S. 195-202). Zuvor wollen wir einige allgemeine Bemerkungen zur Differenz von Medium und Form anbringen.

Der Begriff des Mediums nimmt in der soziologischen Systemtheorie eine zentrale Stellung ein. Von Luhmann im Anschluss an Fritz Heiders Untersuchungen über Wahrnehmungsmedien und an George Spencer-Browns Zwei-Seiten-Form entwickelt, unterscheidet er sich klar vom Medienbegriff der klassischen Medienwissenschaften.

Das Prozessieren der Differenz von Medium und Form ist ein systeminterner Sachverhalt. Im Fall von sinnprozessierenden Systemen sind dies psychische und soziale Systeme. Beide reduzieren und strukturieren Komplexität, die aus den Elementen eines Systems und deren Relationierung besteht.

Die systeminterne Handhabung von Komplexität lässt sich dekomponieren durch die Unterscheidung von Medium und Form sowie durch die Unterscheidung von loser und strikter Kopplung. Letztere Unterscheidung geht davon aus, dass nicht jedes Element in einem System mit einem anderen Element gekoppelt werden kann. Deshalb braucht zusätzlich die Unterscheidung von Medium und Form, die Selektionskriterien für die Kopplung von Elementen vorgibt und damit die Schaffung sowie Aufrechterhaltung einer internen Ordnung ermöglicht.

Wenn wir nun die Unterscheidung von Medium und Form näher betrachten, so tun wir dies am Beispiel der natürlichen Sprache. Einerseits wird sie von psychischen und sozialen Systemen genutzt. Dies macht andererseits die folgenden Ausführungen anschaulicher.

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In Anlehnung an Hörisch (2009, S. 269) bezeichnen wir ein Leitmedium als ein Medium, das zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft zur Teilnahme verpflichtet. Die Verweigerung der Teilnahmepflicht kann zum Selbstausschluss aus der Gesellschaft führen.

In Bezug auf die Leitmedien Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Buchdruck und Computer ist davon auszugehen, dass eine Verweigerung tatsächlich einem Selbstausschluss gleichkommt. Wird jedoch ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium verweigert, so findet in der modernen Gesellschaft ein Selbstausschluss aus einem gesellschaftlichen Funktionssystem statt.

Wenn wir im Folgenden von Leitmedien oder Leitmedienwechseln sprechen, meinen wir daher neben der Sprache als grundlegendem Kommunikationsmedium auch die Verbreitungsmedien Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Buchdruck und Computer, die zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten geographischen Raum teilnahmepflichtig geworden sind.

˅ Leitmedienwechsel

Luhmann diskutiert in «Die Gesellschaft der Gesellschaft» vier Leitmedienwechsel: den Wechsel von nonverbaler Kommunikation zur Sprache, von Sprache zur Schrift, von Schrift zum Buchdruck und vom Buchdruck zu elektronischen Medien. Letztere werden wir unter dem Titel «Computer» behandeln.

Die Einführung eines neuen Leitmediums bedeutet nicht, dass vorangehende Leitmedien verschwinden. Schrift und Buchdruck sind im Sinne der Teilnahmepflicht auch heute noch relevant. Es ist aber davon auszugehen, dass sie relativ zum Computer in der Gesellschaft eine weniger dominante und eine andere Aufgabe wahrnehmen werden. Die Medienwissenschaft diskutiert diese These unter dem Titel «Rieplsches Gesetz».

Die Sprache als grundlegendes Kommunikationsmedium nimmt im Kontext der Leitmedienwechsel eine Sonderstellung ein, weil sie die Autopoiesis der Gesellschaft garantiert. Ihre Einführung markierte den Übergang von der nonverbalen zur verbalen Kommunikation und schuf die Voraussetzung für die Ausdifferenzierung der Verbreitungsmedien. Die Einführung der Sprache ermöglichte die mündliche Kommunikation zwischen Anwesenden.

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˅ Mündlichkeit

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˅ Schriftlichkeit

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˅ Buchdruck

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˅ Computer

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Wir gehen von der Hypothese aus, dass sich ein neues Leitmedium dann in der Gesellschaft durchsetzt, wenn es die Beschränkungen niedrigerer Systemebenen und einfacherer Systemtypen überwindet und durch Komplexitätssteigerung und Differenzierung eine höhere gesellschaftliche Ordnungsleistung erbringen kann. Dies bedeutet, dass neue Systemtypen nach einem spezifischen Selektionsmechanismus Komplexität reduzieren. Diese Reduktion ermöglicht es ihnen, interne Operationen präziser zu steuern und interne Strukturen zu verfeinern. Eine höhere Ordnungsleistung wiederum führt zu einer Steigerung der systeminternen Komplexität.

Die mit einem Leitmedienwechsel einhergehende soziokulturelle Evolution führt daher zur Differenzierung neuer Systemebenen und Systemtypen. Im Folgenden zeichnen wir diesen Prozess anhand der oben eingeführten Medienepochen nach.

˅ Das Interaktionssystem der Gesellschaft

Das Aufkommen der mündlichen Kommunikation bildete den Ausgangspunkt einer soziokulturellen Evolution der Gesellschaft, die auf der Herausbildung und Differenzierung sozialer Systeme als Kommunikationssysteme beruht.

In der tribalen Gesellschaft war Kommunikation ausschliesslich Kommunikation unter Anwesenden. Das heisst, Mitteilende und Verstehende müssen gleichzeitig anwesend sein.

Kommunikation unter Anwesenden zeichnet sich typischerweise durch wechselseitige Wahrnehmung aus. Die Wahrnehmung des Wahrgenommenwerdens wiederum ermöglicht das Zustandekommen sozialer Interaktionssysteme.

Da wir Gesellschaft als die Gesamtheit aller Kommunikationen auffassen und eine Interaktion nicht alle Kommunikationen umfassen kann, kommt es bereits in der tribalen Gesellschaft zu einer Differenzierung von Gesellschaftssystem und Interaktionssystemen. Ohne Interaktionen gäbe es also keine Gesellschaft.

In der tribalen Gesellschaft war die Speicherung von Informationen an die Gedächtnisleistung einzelner Individuen gebunden. Es gab noch keine Verbreitungsmedien, die die Funktion der Speicherung und Verbreitung von Informationen übernahmen. Daher wissen wir im Vergleich zu späteren Medienepochen wenig über die sozialen Strukturen der tribalen Gesellschaft. Eine Möglichkeit, sich ein Bild von ihnen zu machen, besteht darin, Beobachtungen und Beschreibungen des Übergangs von der tribalen zur antiken Gesellschaft heranzuziehen. Haarmann beispielsweise schreibt:

Die Zivilisation, die sich im Verlauf des 6. Jahrtausends v.Chr. in Südosteuropa herausbildete, wurde von einer Gemeinschaft getragen, in der der soziale Status der Männer wie der Frauen nicht hierarchisch, sondern egalitär organisiert war (egalitarian commonwealth). Wir haben es mit einer Gesellschaft zu tun, in der keine soziale Elite tonangebend war, sondern wo Menschen mit aufeinander abgestimmten Interessen den Aufbau eines agrarischen Gemeinwesens mit urbanen Grosssiedlungen vorantrieben, das in seiner Entwicklung eine Vorreiterrolle spielte. Und diese Gesellschaft kannte auch eine der zentralen Institutionen, ohne die keine Hochkultur der Welt funktioniert: Schrift (2002, S. 17-18).

Interaktionssystem

Die Grenze von Interaktionssystemen markiert die Anwesenheit. Wer nicht anwesend ist, gehört nicht zum Interaktionssystem. Diese fällt nach Luhmann dadurch auf, «dass man nur mit Anwesenden, aber nicht über Anwesende sprechen kann; und umgekehrt nur über Abwesende, aber nicht mit ihnen» (2019a, S. 13). Sobald sich die Anwesenheit auflöst, fällt das Interaktionssystem in sich zusammen.Interaktion geht anderswo mit anderen Teilnehmenden in anderen Situationen mit anderen Themen weiter. 

Das Gesellschaftssystem greift in doppelter Hinsicht auf Interaktionssysteme zu: im Vollzug von Interaktion und als Umwelt von Interaktion. Diesem «Doppelzugriff» auf Interkation verdankt die Gesellschaft ihre eigene Evolution (Luhmann, 1997, S. 817).

Die mündliche Sprache ermöglicht es, auch Abwesendes in Interaktionssystemen zu thematisieren, indem Zeichen als eine Art Stellvertreter fungieren. Mündlichkeit expandiert Kommunikation in der Sachdimension.

Die Begrenztheit von Interaktionssystemen liegt darin, dass jeweils nur eine der anwesenden Personen sprechen kann. Dies führt zum einen dazu, dass die serielle Verarbeitung von Informationen einen erheblichen Zeitaufwand für die Anwesenden bedeutet. Zudem erfordert dies eine fokussierte Konzentration auf ein einzelnes Thema. Aufgrund dieser Einschränkungen können Interaktionssysteme keine hohe Komplexität entwickeln.

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˅ Organisationssystem der Gesellschaft

Das Aufkommen der schriftlichen Kommunikation ermöglichte neben Kommunikation unter Anwesenden auch die Kommunikation unter Abwesenden.

In der antiken Gesellschaft führte die zunehmende Grösse und Komplexität interaktionsbasierter Gesellschaftsformationen zu Herausforderungen, die die Leistungsfähigkeit von Interaktionssystemen überstiegen. Die Kommunikation unter Abwesenden ermöglichte eine Desynchronisation der Kommunikation, sodass mehr Empfänger erreicht wurden, als gleichzeitig anwesend sein konnten. Die Schriftlichkeit expandiert somit die Kommunikation der Zeitdimension.

Bevor sich die schriftliche Sprache in der antiken Gesellschaft als Verbreitungsmedium etablierte, wurde sie für das Zählen von Dingen und das Speichern von Informationen genutzt. Sie diente der sozialen Organisation in religiösen, militärischen, administrativen und ökonomischen Bereichen (vgl. Luhmann, 2019, S. 84). Auch wenn sich Organisationssysteme erst in der modernen Gesellschaft als eigenständige Sozialsysteme von der Gesellschaft differenzierten, reichen ihre Ursprünge bis in die antike Gesellschaft zurück. Am Beispiel der minoischen Kultur beschreibt Wertheimer diese Zeit wie folgt:

In den langen Jahrhunderten seiner Blüte (grob gerechnet zwischen 2500 und 1500 v.u.Z.) hatte Kreta eine einzigartige kulturelle Signatur entwickelt: Die Überreste gewaltiger Paläste ohne schützende Umfassungsmauern, die der britische Archäologe Arthur Evans zu Beginn des 20. Jahrhunderts freilegen sollte, lassen auf eine ebenso reiche wie verfeinert-raffinierte Kultur schliessen. Eine Kultur, die es sich erlauben konnte, sich ganz und gar unheroisch und anmutig zu präsentieren, und weder mit den Namen grosser Herrscher prunkte, noch ein Register über Siege und Niederlagen führte: Auf Tausenden von Tontäfelchen, die gewaltige Brände gehärtet und vor dem Verfall bewahrt hatten, fanden sich exakte Aufzeichnungen über Herden, Ernten, Steuern und Opfergaben. Hinweise auf bedeutsame historische Ereignisse und Triumphe sucht man vergebens. Dafür überliefern die Fresken an den ehemaligen Palastmauern das Bild einer auf spielerische Eleganz, weibliche Dominanz und urbane Selbstsicherheit ausgerichteten Welt (2020, S. 24-25).

Die Schriftlichkeit förderte die Entwicklung und Differenzierung sozialer Organisationssysteme, in denen nicht mehr die Anwesenheit, sondern zunehmend die Mitgliedschaft als Prinzip zur Ausdifferenzierung und Konstitution von Grenzen fungierte. Unter den restriktiven Bedingungen der Mitgliedschaft konnten so spezifische Leistungen erbracht werden, die die Weiterentwicklung gesellschaftlicher Strukturen begünstigten.

Organisationssysteme zeichnen sich durch zeitliche, sachliche und soziale Einschränkungen der Kommunikation aus. Das System bestimmt, wann wer mit wem worüber spricht. Erst diese strukturellen Einschränkungen eröffnen die Möglichkeit des Ausschlusses bzw. des Einschlusses durch Mitgliedschaft. Sie schaffen auch die Voraussetzungen dafür, dass Erwartungen so spezifiziert und Motive so generalisiert werden, dass bestimmte Verhaltensweisen dauerhaft reproduziert und die entsprechenden Strukturen stabilisiert werden. Organisationen reduzieren die Komplexität sozialer Interaktionen, um ihre eigene Komplexität auf einer höheren Ordnungsstufe zu steigern.

Die Begrenztheit von Organisationssystemen liegt darin, dass die Mitgliedschaft in Organisationen zwar bis zu ihrer Auflösung verbindlich ist, die Möglichkeit der Kommunikation unter Abwesenden jedoch die Reichweite der sozialen Kontrolle einschränkt.

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˅ Funktionssystem der Gesellschaft

Mit dem Aufkommen des Buchdrucks wurde neben der Kommunikation unter Anwesenden und der Kommunikation unter Abwesenden auch die Kommunikation mit vielen Unbekannten möglich. Typisch für diese Form der Kommunikation ist der Einsatz von Massenmedien (Buchdruck, elektronische Medien). Durch die Zwischenschaltung von Technik wird bei Massenmedien die Möglichkeit der direkten Interaktion aufgehoben (vgl. Luhmann, 1996, S. 11).

Durch die Aufhebung entstehen in den Massenmedien auf Seiten der Mitteilenden neue Freiheitsgrade der Kommunikation, die nur noch durch den Aufbau eigener, systeminterner Strukturen kontrolliert werden können. Dies führt zu einer operativen Schliessung und damit zu einer eigenen Realitätskonstruktion des Funktionssystems der Massenmedien.

Luhmann spricht daher von der Realität der Massenmedien in einem doppelten Sinne: Zum einen besteht sie im Vollzug der eigenen Operationen. Zum anderen besteht die Realität in dem, «was für sie oder durch sie für andere als Realität erscheint» (1996, S. 14).

Folgt man dieser Logik der aufgehobenen Interaktion, stellt sich die Frage, welche Folgen es für das Funktionssystem der Massenmedien haben könnte, wenn die Aufhebung durch das Leitmedium Computer wieder aufgelöst wird.

Mit der Einführung der Massenmedien und dem Übergang zur modernen Gesellschaft beginnen sich Interaktion und Organisation von der Gesellschaft zu differenzieren. Wir können nun drei Systemtypen auf drei Systemebenen unterscheiden: die Interaktion auf der Mikroebene, die Organisation auf der Mesoebene und die Gesellschaft auf der Makroebene.

Koevolutiv zur Differenzierung von Interaktion und Organisation differenzieren sich auch Funktionssysteme aus. Neben dem Funktionssystem der Massenmedien sind dies Systeme wie Wirtschaft, Recht, Politik, Religion, Wissenschaft, Bildung, Kunst und Familie.

Funktionssysteme konstituieren sich nicht als organisatorische Einheit, da die zu einem Funktionssystem entsprechenden Interaktionen auch ausserhalb dieser Einheit stattfinden können (vgl. Luhmann, 1997, S. 841). Sie umfassen alle Organisationen und Interaktionen, die einem Funktionsprimat folgen. Das bedeutet, dass die Organisationen und Interaktionen den binären Code des jeweiligen Funktionssystems übernehmen und nach dessen Schema unterscheiden, welche Kommunikationen zum Funktionssystem passen und welche nicht. Beispielsweise operiert das Funktionssystem der Wirtschaft nach dem binären Code der Zahlung/Nicht-Zahlung.

Die Realitätskonstruktion der Funktionssysteme folgt den Programmen, die auf Basis der Codes ausgeführt werden. Sie definieren die Abfolge von Operationen und die Bedingungen, unter denen diese Operationen ausgeführt werden. Im Wirtschaftssystem können Programme z. B. die Produktions- und Vertriebsprozesse von Unternehmen oder die Entscheidungsprozesse von Konsumenten beschreiben.

Die Funktion der Massenmedien besteht darin, die Selbstbeobachtung der Gesellschaft zu steuern (vgl. Luhmann, 1996, S. 173). Sie stellen sicher, dass die Gesellschaft ihre eigene Realität kontinuierlich beobachtet und rekursiv konstituiert. Dabei spielt die oben erwähnte Doppelfunktion eine zentrale Rolle: Massenmedien schaffen durch ihren operativen Vollzug die Realität der Gesellschaft und beeinflussen zugleich, was der Gesellschaft als Realität erscheint.

Die Funktion der Massenmedien besteht nicht nur im Dirigieren der Selbstbeobachtung der Gesellschaft. Gemäss ihrem Code und ihrer Programme erzeugen und bearbeiten sie ständig Irritationen, die die Gesellschaft beeinflussen (vgl. Luhmann, 1996, S. 174).

Die Begrenztheit von Funktionssystemen liegt darin, dass sie zwar spezifische gesellschaftliche Probleme bearbeiten können, nicht aber systemübergreifende Themen adressieren. Dies gilt insbesondere für Themen, die die Gleichheit in der Gesellschaft und das Gleichgewicht in der Umwelt der Gesellschaft betreffen (vgl. Luhmann, 1997, S. 857).

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˅ Protestsystem der Gesellschaft

Mit dem Aufkommen des Computers wurde neben der Kommunikation unter Anwesenden, Abwesenden und mit vielen Unbekannten auch die Kommunikation unter abwesenden Anwesenden sowie unter Mensch und Maschine möglich.

Parallel zum Funktionssystem der Massenmedien hat in der nächsten Gesellschaft die erneute Zwischenschaltung von Technik die Interaktion zwischen Mitteilenden und Verstehenden wiederhergestellt – diesmal jedoch unter anderen Voraussetzungen.

Zum einen hat die weltweite Vernetzung von Computern kommunikative Räume eröffnet, in denen computervermittelte Interaktion möglich ist. Diese unterscheidet sich von der direkten Interaktion durch Kommunikation unter abwesenden Anwesenden. Diese Form der Interaktion schränkt die wechselseitige Wahrnehmung und damit ein typisches Merkmal des Interaktionssystems der Gesellschaft stark ein. Zum anderen sind erstmals in der soziokulturellen Evolution der Gesellschaft nicht nur psychische und soziale Systeme, sondern auch technische Betriebssysteme an Interaktionen beteiligt und stellen dafür ihre artifizielle Kontingenz zur Verfügung.

Die Teilnahme an computervermittelter Interaktion ist zudem an eine Mitgliedschaft in Form einer artifiziellen Identität bei einem Dienstleister gebunden. Diese Identität kann von einer numerischen Adresse bis hin zu einem Avatar reichen. Kommunikation in der nächsten Gesellschaft ist stark durch Organisationssysteme und deren Voraussetzung einer Mitgliedschaft geprägt.

Schliesslich entstehen auf Seiten der vormals nur Verstehenden, für die nun auch die Kommunikation mit vielen Unbekannten möglich ist, ebenfalls neue Freiheitsgrade der Kommunikation, die einer strukturellen Kontrolle bedürfen und sich vermutlich vom Code und von den Programmen des Funktionssystems der Massenmedien differenzieren.

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Medienkatastrophe

Da ein neues Leitmedium immer mehr Sinn produziert, als die Gesellschaft verarbeiten kann, spricht man mit Blick auf einen Leitmedienwechsel auch von einer Medienkatastrophe. Sie beginnt mit dem Aufbrechen bestehender Strukturen und der Infragestellung tradierter Kulturformen und endet mit deren Restabilisierung.

In seinen «Studien zur nächsten Gesellschaft» schreibt Dirk Baecker in diesem Zusammenhang: «In jeder dieser Katastrophen explodierte der von der Gesellschaft zu bearbeitende Überschusssinn und es mussten […] Kulturformen gefunden werden, die es ermöglichen, diesen Überschusssinn nach Bedarf und Fähigkeit entweder selektiv abzulehnen oder positiv aufzunehmen» (2007: S.34).

In «4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt» wiederholt er: «Die spezifische Herausforderung liegt darin, dass eine Gesellschaft Strukturen entwickeln muss, die die Verwendung dieser Medien [gemeint sind Verbreitungsmedien der Kommunikation, Anm. CMS] an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft sicherstellen, das heisst sowohl ermöglichen als auch einschränken. Keine Gesellschaft lässt zu, dass Medien beliebig verwendet werden» (2018: S.26f).

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