Meta

Zwei-Seiten-Form

Niklas Luhmann hat in seinem Werk die soziologische Systemtheorie zusehends auf ein differenztheoretisches Fundament abgestellt. Dazu referenziert er, wie er in seiner «Einführung in die Systemtheorie» anmerkt, auf «die radikalste Form eines solch differenzialistischen Denkens» (2020: 68). Diese Referenz bezieht sich auf George Spencer-Brown und sein Buch «Laws of Form» (LoF).

In diesem Buch entwickelt Spencer-Brown ein Indikationenkalkül mit dem Anspruch, Mathematik mit einer primären Arithmetik und primären Algebra auf eine gemeinsame Basis abzustellen und unter Verwendung imaginärer Werte mit Gleichungen zweiten Grades zu erweitern. Als Ausgangspunkt seiner Überlegungen wählt er die Operation des Unterscheidens.

Bei der Entwicklung seines Indikationenkalküls schwächt Spencer-Brown die klassischen mathematischen Prämissen derart ab, dass es über die blosse Mathematik hinausreicht. «Spencer-Brown», so Athanasios Karafillidis in seinem Buch «Soziale Formen», «rekonstruiert […] Strukturen, die allen mathematischen, linguistischen, physikalischen und biologischen (und man darf hinzufügen: philosophischen und soziologischen) Formen zugrunde liegen» (2010: 117). Damit hat er ein Kalkül geschaffen, dessen Anziehungs- und Strahlkraft weit über die Mathematik hinausreicht.

Für sein Indikationenkalkül hat Spencer-Brown eine eigene formale Sprache und ein Notationssystem geschaffen, das im Kontext der Systemtheorie von Luhmann übernommen und später insbesondere von Dirk Baecker weiter ausgearbeitet worden ist. Schauen wir uns Sprache und Notation von Spencer-Brown Schritt für Schritt genauer an (Abb. 1).

Zwei-Seiten-Form nach Gorge Spencer-Brown

˅ Unterscheiden

Zu Beginn des zweiten Kapitels der LoF formuliert Spencer-Brown die viel zitierte Anweisung: «Draw a distinction» (2015: 3). Mit dieser Operation entsteht die Unterscheidung der Form. Sie zeichnet sich durch vier Aspekte aus: der Grenze, der Seite links und der Seite rechts der Grenze sowie dem Kontext der Unterscheidung.

Zentral für das Verständnis dieser vier Aspekte ist Spencer-Browns Definition des Begriffs der Unterscheidung: «Distinction is perfect continence» (2015: 1). Diese Definition wird in der Sekundärliteratur als «Unterscheidung ist vollkommener Zusammenhang» (vgl. Varga von Kibéd/Matzka 2016: 58) oder «Trennung ist (sein Gegenteil) Verbindung» (vgl. Schönwälder-Kuntze/Wille 2009: 71) interpretiert.

Diese widersprüchlich anmutende Definition ist gleich in zwei Hinsichten von Bedeutung: Einerseits trennt die Unterscheidung der Form zwei Seiten und weist gleichzeitig auf deren untrennbaren Zusammenhang hin. Andererseits grenzt sich die Form der Unterscheidung von anderen Formen der Unterscheidung ab und verweist damit auf einen kontextuellen Zusammenhang.

^ ^ ^

˅ Hinweisen

Nach Spencer-Brown besteht ein enger Zusammenhang zwischen Unterscheiden und Hinweisen. Das erste Kapitel der LoF beginnt mit dem Satz: «We take as given the idea of distinction and the idea of indication, and that we cannot make an indication without drawing a distinction» (2015: 1).

Das Hinweisen wird durch einen am senkrechten Strich (Grenze) abzweigenden waagrechten Strich (Hinweis) angezeigt. Dadurch entsteht ein Haken, der die Unterscheidung der Form in eine markierte Innenseite (m) und eine unmarkierte Aussenseite (n) teilt. Jede Unterscheidung erhält so zwei Referenzpunkte (m, n). An dieser Stelle geht es nicht darum, was markiert, sondern dass markiert wird. Es handelt sich zunächst um keine inhaltliche, sondern um eine rein formale Unterscheidung.

Das dergestalt eingeführte Elementarzeichen des Indikationenkalküls, der Haken, hat eine deskriptive (beschreibende) und eine injunktive (auffordernde) Bedeutung. Einerseits markiert der Haken («mark») eine bereits getroffene Unterscheidung. Andererseits fordert der Haken («cross») dazu auf, die Unterscheidung selbst zu treffen.

Diese Doppeldeutigkeit macht deutlich, dass anders als in der klassischen Mathematik, in der zwischen Operanden (Zeichen für Zahlen) und Operator (Zeichen für Rechenoperationen) unterschieden wird, bei Spencer-Brown Operand und Operator in einem einzigen Elementarzeichen zusammenfallen.

^ ^ ^

˅ Kontextualisieren

Unterscheiden und Hinweisen vollziehen sich immer in einem Kontext. Spencer-Brown spricht in diesem Zusammenhang zunächst von Räumen, Zuständen oder Inhalten (vgl. 2015: 3). Entgegen unserer ersten Intuition fasst er nun nicht bloss die markierte Seite (m) einer Unterscheidung, sondern auch deren unmarkierte Seite (n) als Teil der Form auf: «Call the space cloven by any distinction, togehter with the entire content oft the space, the form of the distincion» (ebd.). Die Unterscheidung der Form transformiert sich also erst durch den Kontext zu einer Form der Unterscheidung.

Die Form der Unterscheidung wiederum markiert ebenfalls eine Grenze innerhalb des Möglichkeitsspielraums anderer Formen der Unterscheidungen. Deshalb kann ihre Aussenseite ebenfalls als unmarkiert (n) ausgezeichnet werden («unwritten cross»). «Die Beobachtung von Formen», so Karafillidis, «ist deshalb nicht abschliessbar und führt zu keinem natürlichen Ende, zu keiner abschliessenden Gewissheit. Unausweichlich wird die unmarkierte Aussenseite immerfort mitgeführt» (2015: 126).

Die Zwei-Seiten-Form markiert also immer drei Seiten: die markierte Innenseite (m) und die unmarkierte Aussenseite (n) der Unterscheidung der Form sowie die unmarkierte Aussenseite der Form der Unterscheidung (n).

^ ^ ^

˅ Differenzieren

Nachdem Spencer-Brown die Unterscheidung der Form als vollkommenen Zusammenhang definiert hat, erklärt er: «There can be no distiction without motive, and there can be not motive unless contents are seen to differ in value» (2015: 1). Damit führt Spencer-Brown zwei weitere Aspekte des Indikationenkalküls ein, nämlich das Motiv und die Differenz.

Beginnen wir mit dem Motiv. War mit Blick auf den Kontext der Unterscheidung der Form bisher von Räumen, Zuständen oder Inhalten die Rede, fokussiert Spencer-Brown nun auf letztere («contents»). Denn nur wenn die Inhalte einer Unterscheidung als von verschiedenem Wert gesehen werden, besteht ein Motiv, eine Unterscheidung zu treffen. Dieses Motiv fiele weg, würden die Inhalte von gleichem Wert gesehen.

Es braucht also eine Differenz. Sie bildet die Bedingung der Möglichkeit, auf den Wert eines Inhalts hinzuweisen. Eine Wertdifferenz zu sehen, ist jedoch nur möglich, wenn die unterschiedenen Inhalte auch von Wert sind. Deshalb setzen wir die Variable a für den Wert des Inhalts auf der markierten Seite (m) und die Variable b für den Wert des Inhalts auf der unmarkierten Seite (n). Die Einheit einer Unterscheidung kann also auch als Einheit einer Differenz aufgefasst werden.

Differenz und Unterscheidung führen zu einer eigentümlichen Zirkularität: Einerseits ist die Differenz das Resultat einer Unterscheidung; andererseits ist sie Voraussetzung dafür, eine Unterscheidung zu treffen.

Matthias Varga von Kibéd und Rudolf Matzka halten diesbezüglich in ihrem Beitrag im Buch «Kalkül der Form» fest: «In dieser scheinbaren Zirkularität liegt zugleich eine Andeutung, wie Formentstehung mit Begriffsbildung verbunden ist […]: Wäre vor der Bildung eines Begriffs der durch ihn zu charakterisierende Unterschied schon vollständig gegeben, wäre seine Einführung überflüssig. Wäre allerdings kein Unterschied gegeben, wäre seine Einführung unmöglich. Eine Verschiedenheit [Differenz, Anm. CMS] kann man sich im Sinne der topologischen Metaphern Spencer Browns vielleicht am günstigsten durch eine nicht ganz undurchlässige Grenze vorstellen» (2016: 63).

Schliesslich führt Spencer-Brown noch den Aspekt des Namens ein: «If a content is of value, a name can be taken to indicate this value» (ebd.). Der Indikationenkalkül sieht zwei Möglichkeiten vor, einen Namen zu verwenden, um auf den Wert eines Inhalts hinzuweisen: mal mit der Nennung eines Namens («calling of the name»), mal durch die Absicht zur Überquerung der Grenze («crossing of the boundary»).

Hinsichtlich der ersten Möglichkeit gilt: Die Nennung des Namens kann mit dem Wert des Inhalts identifiziert werden. Das heisst an unserem Beispiel, mit der Nennung des Namens a kann auf die Variable a hingewiesen werden. Es ist leicht zu sehen, dass in diesem Fall die deskriptive Bedeutung des oben eingeführten Hakens als «mark» zum Tragen kommt. Eine solche Markierung bezeichnet einen Unterschied, macht ihn aber nicht.

Vor dem Hintergrund dieser Setzung formuliert Spencer-Brown das 1. Axiom («The Law of calling») des Indikationenkalküls: «The value of a call made again is the value of the call» (2015: 2). Das bedeutet, dass sich der Wert des Namens – und damit der Wert des Inhalts – bei wiederholter Nennung des Namens nicht ändert («to recall is to call»).

Bemerkenswert am 1. Axiom ist, dass bei der wiederholten Nennung des Namens der Informationsgehalt der Differenz und damit auch der Motivlage gleich bleibt. Spencer-Brown schafft damit die Grundlage für die sogenannte Gedächtnisfunktion formaler Systeme.

Hinsichtlich der zweiten Möglichkeit gilt: Mit der Überquerung der Grenze der Unterscheidung kann der Wert des Inhalts identifiziert werden. Das heisst an unserem Beispiel, mit dem Übergang von der unmarkierten Seite (n) zur markierten Seite (m) wird auf die Variable a hingewiesen. In diesem Fall kommt die injunitive Bedeutung des Hakens («cross») zum Tragen. Eine solche Aufforderung zur Überquerung macht einen Unterschied, ist im Moment des Unterscheidens aber nicht markierbar.

In seinem Büchlein «Wozu Kultur?» notiert Dirk Baecker dazu: «Man kann eine Unterscheidung also entweder verwenden, dann kann man sie selbst jedoch nicht uno acto beobachten, oder beobachten, dann verwendet man sie jedoch nicht (sondern muss zu ihrer Beobachtung eine andere, im Moment unbeobachtbare Unterscheidung voraussetzen)» (vgl. 2003:127).

Vor dem Hintergrund dieser Setzung formuliert Spencer-Brown das 2. Axiom («The Law of crossing»): «The value of a crossing made again is not the value of the crossing» (ebd). Das bedeutet, dass mit der ersten Überquerung der Grenze, von der unmarkierten zur markierten Seite, zwar der Wert der Überquerung – und damit der Wert eines Inhaltes – identifiziert wird. Das Axiom besagt nun, dass sich bei einer erneuten Überquerung, diesmal von der markierten zur unmarkierten Seite, der Wert der Überquerung – und damit der Wert des Inhaltes – verändert («recross is not to cross»).

Das erneute Überqueren der Grenze hat also zwei Folgen: Einerseits wird der mit der ersten Überquerung («cross») identifizierte Wert des Inhaltes aufgehoben bzw. entwertet; andererseits wird mit der erneuten Überquerung («recross») der Wert des Inhalts auf der anderen Seite identifiziert.

Bemerkenswert am 2. Axiom ist, wenn eine Absicht zur Überquerung und dann eine Absicht zur Rücküberquerung besteht, dann entspricht der Wert der beiden Absichten zusammengenommen weder dem Wert des Inhalts auf der einen noch auf der anderen Seite. Diese Eigenheit wird im Zusammenhang mit dem Wiedereinführen nochmals aufgegriffen.

^ ^ ^

˅ Wiedereinführen

In den letzten zwei Kapiteln der LoF führt Spencer-Brown die Wiedereinführung («re-entry») ein. Sie steht für eine Operation, die die Unterscheidung in das Unterschiedene wieder einführt. Im Notationssystem der LoF wird die Wiedereinführung mit einem umgekehrten Haken dargestellt, der die markierte Aussenseite der Form der Unterscheidung in die Innenseite der Unterscheidung der Form zurückführt.

Der «re-etnry» ist der meist diskutierte Begriff der LoF. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Struktur und Dynamik der so bezeichneten Operationen eine gewisse Ähnlichkeit mit anderen Begriffen haben. Dazu zählen etwa: «Resonanz», «Feedback», «Rückkopplung», «Reflexivität», «Selbstreferenz», «Rekursion», «Zirkularität» u.a. Katrin Wille erinnert daran, dass Spencer-Brown an manchen Stellen auf eine «Familienähnlichkeit» zwischen diesen Begriffen und dem «re-entry» hinweist (vgl. 2009: 191). In den LoF indes demonstriert er die Operation der Wiedereinführung anhand der Erweiterung seiner primären Arithmetik.

Im Kapitel über Gleichen zweiten Grades formt Spencer-Brown einen Ausgangsausdruck in fünf Schritten so um, dass der Ausgangsausdruck verdoppelt und nach weiteren fünf Schritten verdreifacht wird (vgl. 2015: 45f). Da sich die Konstruktionsanweisung mit den fünf Umformungsschritten beliebig wiederholen lässt, lässt sich auch der Ausgangsausdruck beliebig verlängern. Die dergestalt durchgeführte Wiedereinführung transformiert Gleichungen ersten in Gleichungen zweiten Grades.

Die Möglichkeit, einen Ausgangsausdruck beliebig zu verlängern, verletzt allerdings eine zentrale Regel der Algebra. Diese besagt, dass eine Gleichung nur aus endlichen Umformungsschritten bestehen darf, da ihr Wert ansonsten nicht bestimmt werden kann. Wie also lässt sich der Wert von Gleichungen zweiten Grades bestimmen?

Die Antwort liegt nach Spencer-Brown in der Möglichkeit, die verschiedenen Fälle der Wertbelegungen an den Gleichungen ersten und zweiten Grades durchzuspielen und miteinander zu vergleichen. Interpretieren wir eine Zwei-Seiten-Form ohne Wiedereinführung als Gleichung ersten Grades, dann sehen die verschiedenen Wertbelegungen wie folgt aus:

  1. Ist die Innenseite der Unterscheidung markiert (m) und die Aussenseite der Unterscheidung unmarkiert (n), dann ist der Wert der Gleichung markiert (m).
  2. Ist die Innen- und Aussenseite der Unterscheidung markiert (m), dann ist der Wert der Gleichung unmarkiert (n).
  3. Ist die Innenseite der Unterscheidung unmarkiert (n) und die Aussenseite der Unterscheidung markiert (m), dann ist der Wert der Gleichung unmarkiert (n).
  4. Ist die Innen- und Aussenseite der Unterscheidung unmarkiert (n), dann ist der Wert der Gleichung entweder unmarkiert (n) oder markiert (m).

Es fällt auf, dass bei einer Gleichung ersten Grades eine Wertbelegung vorkommen kann, die die Gleichung unbestimmbar macht. Im vierten Fall ist der Wert der Gleichung entweder unmarkiert (n) oder markiert (m).

Hinsichtlich einer Gleichung zweiten Grades – wir interpretieren sie als Zwei-Seiten-Formen mit Wiedereinführung – unterscheidet Spencer-Brown zwischen zwei Typen von Gleichungen.

Beim ersten Typ von Gleichungen zweiten Grades handelt es sich um selbstbestätigende bzw. tautologische Gleichungen. Die Wiedereinführung kann hier als positive Rückkopplung aufgefasst werden. Diese Gleichungen sind Gleichungen ersten Grades insofern ähnlich, als ihre Werte im vierten Fall ebenfalls entweder unmarkiert (n) oder markiert (m) sind.

Beim zweiten Typ von Gleichungen zweiten Grades handelt es sich um selbstverneinende bzw. paradoxe Gleichungen. Die Wiedereinführung kann hier als negative Rückkopplung aufgefasst werden. Diese Gleichungen unterscheiden sich von Gleichungen ersten Grades insofern, als ihre Werte im vierten Fall sowohl unmarkiert (n) als auch markiert (m) sind. Dies führt zu widersprüchlichen Ergebnissen (m=n oder n=m).

Mit Blick auf Zweit-Seiten-Form können wir also festhalten, dass die Wiedereinführung der Unterscheidung in das Unterschiedene zu einer Paradoxie führen kann: Das Markierte ist das Unmarkierte und umgekehrt ist das Unmarkierte das Markierte.

Um diese Paradoxie zu entfalten, führt Spencer-Brown neben der Dimension des Raums (Formen) die Dimension der Zeit in den Indikationenkalkül ein. Denn im Unterschied zum Treffen einer Unterscheidung, was wir als ein Ereignis auffassen können, handelt es sich bei der Wiedereinführung um einen Prozess, der Zeit in Anspruch nimmt. Spencer-Brown selbst vergleicht diesen Prozess mit der Durchquerung eines Tunnels, das von der einen Seite auf die andere Seite der Grenze der Unterscheidung führt (vgl. 2015: 48f).

Damit etabliert Spencer-Brown neben dem markierten und unmarkierten einen dritten Zustand, den imaginären Zustand. Er hebt die getroffene Unterscheidung innerhalb der Form insofern auf, als mit der Durchquerung des Tunnels ein Hin und Her zwischen den zwei Seiten möglich ist, ohne die ursprünglich getroffene Unterscheidung nachvollziehen zu müssen. Weil aber zwischen den zwei Seiten der getroffenen Unterscheidung ein untrennbarer Zusammenhang besteht, findet bei der Durchquerung des Tunnels jeweils gleichzeitig ein Wertwechsel statt.

Erst jetzt wird verständlich, weshalb Spencer-Brown im Zusammenhang mit dem 2. Axiom postuliert hat, dass wenn eine Absicht zur Überquerung und dann eine Absicht zur Rücküberquerung bestehe, der Wert der beiden Absichten zusammengenommen weder dem Wert des Inhalts auf der einen Seite (a) noch dem Wert des Inhalts auf der anderen Seite (b) entspreche.

In Abhängigkeit der Länge des Tunnels und der Geschwindigkeit bei dessen Durchquerung beginnt im imaginären Zustand die Unterscheidung zwischen ihren Werten (a, b) zu oszillieren. Damit verhindert Spencer-Brown einen Zusammenstoss zwischen gleichzeitig markierten und unmarkierten Werten und etabliert so ein stabiles System, das seine eigene Zeit generiert.

Die Oszillation ist eine typische Funktion von Gleichungen zweiten Grades des Typs paradoxe Gleichung. Sie löst Gleichungen bzw. Formen nicht als Kontradiktionen auf, sondern wechselt in Abhängigkeit der Zeit zwischen verschiedenen Aussagewerten (a, b, a, b, usw.) Demgegenüber weist Spencer-Brown Gleichungen zweiten Grades des Typs tautologische Gleichung eine Gedächtnisfunktion zu. Diese Gleichungen bzw. Formen führen über die Zeit hinweg zu den immer wieder gleichen Aussagewerten (a oder b).

^ ^ ^

˅ Formalisieren

Das Gleichheitszeichen, das in der klassischen Mathematik zwischen zwei wertgleichen Ausdrücken steht, verändert im Indikationenkalkül seine Bedeutung. Spencer-Brown schreibt im zweiten Kapitel der LoF: «Call expressions oft he same value equivalent» (2015: 4).

Im Indikationenkalkül steht das Zeichen also nicht für eine Identität zwischen zwei wertgleichen Ausdrücken, sondern für eine Äquivalenz derselben: Das, was in Abb. 1 auf der rechten Seite des Gleichheitszeichens steht, gleicht dem Wert nach dem, was auf der linken Seite steht. Die Ausdrücke auf der rechten und linken Seite der Gleichung sind aber offensichtlich nicht identisch.

Mit der Einführung der Äquivalenz ist die Voraussetzung dafür geschaffen, die Form der Unterscheidung in eine formale Sprache zu übersetzen. So ist der mit der Überquerung der Grenze («crossing») identifizierte Wert des Inhalts (Variable a) in der markierten Seite der Unterscheidung auf der rechten Seite der Gleichung äquivalent mit dem durch die Nennung des Namens («calling») identifizierten Wert (a) auf der linken Seit der Gleichung.

Oder: Der mit dem erneuten Überqueren der Grenze («recrossing») identifizierte Wert des Inhalts (Variable b) in der unmarkierten Seite der Unterscheidung auf der rechten Seite der Gleichung ist äquivalent mit dem durch die Nennung des Namens («calling») identifizierten Wert (b) auf der linken Seite der Gleichung.

Wir sehen an diesen Beispielen, dass Gleichungen immer von rechts nach links gelesen werden. Auf der rechten Seite steht der bestimmende und auf der linken Seite der zu bestimmende Wert der Gleichung.

^ ^ ^

Wir haben bis hierher versucht, die formale Sprache und das Notationssystem des Indikationenkalküls von Spencer-Brown nachzuvollziehen. Mit Fokus auf die Zwei-Seiten-Form haben wir dabei die primäre Arithmetik und Algebra weitgehend ausser Acht gelassen.

Vielmehr geht es an dieser Stelle darum, Bezugspunkte zwischen den LoF und der soziologischen Systemtheorie aufzuzeigen. Dabei fällt auf, dass sich Luhmann in erster Linie auf die basale Operation des Unterscheidens und die Zwei-Seiten-Form bezieht, während Baecker mit seinen «Katjekten» mit ineinander geschachtelten Unterscheidungen arbeiten (vgl. Baecker 2021).

Die vermeintliche Einverleibung des differenztheoretischen Ansatzes von Spencer-Brown in die Systemtheorie wird nicht unkritisch kommentiert. So kommen Peter Fuchs und Franz Hoegl in ihrem Aufsatz «Die Schrift der Form» zum Schluss, dass «Luhmann die Laws of Form als Thesaurus für brauchbare Metaphern nutzt und nicht: als Kalkül, nicht als Möglichkeit, soziologische Theorie zu formalisieren» (2015: 31).

Boris Hennig hat sich in seinem Aufsatz «Luhmann und die Formale Mathematik» die Mühe gemacht, die Fussnoten bezüglich Spencer-Brown in Luhmanns Werk mit den LoF zu vergleichen. Sein Fazit: «Das meiste nämlich, was Luhmann den Laws of form angeblich entnimmt, steht auf den zweiten Blick gar nicht darin» (2000: 157).

Vermutlich ging es Luhmann weniger darum, Spencer-Brown korrekt zu interpretieren und konsistent in sein Theoriegebäude zu integrieren. Vermutlich ging es ihm mehr darum, die Systemtheorie auf ein differenztheoretisches Fundament abzustellen und sich dabei der Sprache und des Notationssystems von Spencer-Brown zu bedienen, um sich selbst vom Resultaten überraschen zu lassen. «Man publiziert», hielt Luhmann einst fest, «nicht um zu belehren, sondern um beobachtet zu werden.» Und – möchte man hinzufügen – um sich selbst zu beobachten.

Um die Bedeutung der basalen Operation des Unterscheidens besser zu verstehen, müssen wir mit Beobachtung und Sinn zwei weitere Grundkonzepte der Systemtheorie skizzieren.

Beobachten

Bei der Einführung der Beobachtung bzw. des Beobachters in seine Theorie verwendet Luhmann eine Reihe von Unterscheidungen, die er mit dem Anspruch getroffen hat, eine eigenständige Epistemologie für die Systemtheorie zu entwickeln. Dabei bricht er mit vielen Voraussetzungen der klassischen Erkenntnistheorie. Luhmann begründet diesen Bruch mit der Aussicht, neue Einsichten über soziale Systeme zu gewinnen. Der Bruch, den er vollzieht, zeigt sich in folgenden Punkten.

Luhmann verabschiedet sich von der klassischen Logik, gemäss der Zirkelschlüsse («petitio principii») zu vermeiden sind, und postuliert stattdessen die Zulässigkeit einer Methodik, in der Selbstreferenz möglich sein muss.

Gleichzeitig stellt er die axiomatisch-deduktive Theorie in Frage und setzt an ihre Stelle eine ausgeklügelte Theorie des Beobachtens, die im Anschluss an Gorge Spencer-Brown auf einem formalen Begriff des Beobachtens abgestellt ist.

Obwohl der Systemtheorie nachgesagt wird, sie sei viel zu abstrakt, um als empirische Theorie nutzbar zu sein, weist Luhmann immer wieder auf ihre Realitätsbezüge hin. Denn Beobachten ist eine empirische, also beobachtbare Operation.

Die soziale Welt, wie sie für sinnprozessierende Systeme vorkommt, ist demnach eine beobachtete Welt. Und die Bedingungen der Möglichkeit der unterschiedlichen Hinsichten auf diese Welt liegen im Beobachten selbst. Die Theorie des Beobachtens beruht auf Immanenz. Damit grenzt sich Luhmann auch von jeglichen transzendentalen Erkenntnistheorien ab.

Schliesslich unterstellt Luhmann seiner Theorie des Beobachtens keine Ontologie, sondern ihn interessiert vielmehr die Ontogenese einer Ontologie bzw. einer sogenannt fungierenden Ontologie (vgl. Fuchs 2015: 11). Es geht ihm also nicht darum, zu zeigen, was ein Beobachter in der sozialen Welt als soziale Tatsache erkennen kann, sondern vielmehr darum, zu erklären, wie es kommt, dass einem Beobachter etwas als soziale Tatsache erscheint. Die Theorie des Beobachtens ist also eine Theorie der Ontogenese.

Im Folgenden wollen wir die wichtigsten Unterscheidungen, auf denen die Theorie des Beobachtens beruht, kurz zusammenfassen.

˅ Operation und Beobachtung

Bevor wir auf die Unterscheidung von Operation und Beobachtung eingehen, müssen wir die Unterscheidung von Beobachter und Beobachten einführen. Wir werden im nächsten Abschnitt näher auf diese Unterscheidung eingehen. Gemäss der Systemtheorie ist ein Beobachter ein autopoietisches System und Beobachten eine Operation eines solchen Systems. Diese verkürzten Definitionen sollen vorerst ausreichen.

In der Systemtheorie bedeutet Operation die Reproduktion der Elemente eines Systems durch die Elemente desselben Systems. Diese Autopoiesis ermöglicht es, dass fortlaufend neue Operationen an vorangegangene Operationen anschliessen und somit das System am Laufen gehalten wird. Bei sinnprozessierenden Systemen wird zwischen psychischen und sozialen Systemen unterschieden. Die Form der Operation, das sich reproduzierende Element, ist bei Ersteren der Gedanke und bei Letzteren die Kommunikation.

Mit dem Begriff der Beobachtung schliesst die Systemtheorie an der Zweit-Seiten-Form von George Spencer-Brown an. Eine Beobachtung meint das Handhaben einer Unterscheidung zur Bezeichnung der einen und nicht der anderen Seite der Unterscheidung. Die Beobachtung bezieht sich also auf eine Referenz, auf etwas Bezeichnetes, und muss von der Operation, die referiert, unterschieden werden.

Das enge Verhältnis zwischen Operation und Beobachtung dekomponiert Luhmann in «Die Wissenschaft der Gesellschaft» genauer. Dabei geht es nicht um ein hierarchisches Verhältnis zwischen den zwei Begriffen, sondern um verschiedene Hinsichten auf die Unterscheidung von Operation und Beobachtung. Luhmann betont denn auch, dass es sich bei dieser Unterscheidung um eine rein funktionale, und nicht – im transzendentaltheoretischen Sinne – um eine ontologische Unterscheidung handle (vgl. 2018b: 76).

Die Notwendigkeit, zwischen Operation und Beobachtung zu unterscheiden, erklärt Luhmann damit, dass beim Beobachten die verwendete Unterscheidung – gemeint ist die Form der Beobachtung – für den Beobachter selbst blind ist (vgl. ebd.: 115). Der Beobachter kann nicht in einem Zug die Operation des Beobachtens vollziehen und dabei noch die verwendete Unterscheidung beobachten.

Mit anderen Worten: Die Operation des Beobachtens kann nicht auf sich selbst angewandt werden. Darin liegt eine Form von Paradoxie, die durch Zeit entfaltet werden kann. Wollte der Beobachter sich selbst beim Beobachten beobachten, so würde dies eine weitere Beobachtung und damit Zeit erfordern.

«Das Problem», so Luhmann, «liegt also in der Zeit, und auch die Lösung liegt in der Zeit. Als Operation kann die Beobachtung sich nur momenthaft aktualisieren. Sie muss etwas bezeichnen […]. Das erzwingt den Verzicht auf Selbstbeobachtung auf der Ebene der Einzeloperation. Das schliesst jedoch nicht aus, dass andere Operationen, sei es gleichzeitig, sei es vorher oder nachher, das Beobachten beobachten, die benutzten Unterscheidungen unterscheiden – sofern nur ein Netzwerk rekursiven Beobachtens, also ein System hergestellt werden kann» (ebd.).

Das Beobachten der Unterscheidung von Operation und Beobachtung ist in zwei Hinsichten mögliche (vgl. ebd.: 77).

Einerseits kann ein Beobachter eine Operation als Beobachten beobachten, indem er den operativen Vollzug des Beobachtens beobachtet. Beobachten ist immer eine empirisch beobachtbare Operation. Der Beobachter beobachtet, was bezeichnet bzw. referiert wird.

Die Beobachtung einer Operation als Beobachten ist insofern von epistemologischer Relevanz, als sich mit dem Vollzug der Operation die Realität eines Beobachters bzw. eines autopoietischen Systems konstituiert. Realität im systemtheoretischen Sinne bezieht sich also immer auf das Operieren autopoietischer Systeme, und nicht etwa auf eine unabhängig von Beobachtern existierende Welt.

Vor diesem Hintergrund ist auch das viel diskutierte Zitat, mit dem Luhmann in «Soziale Systeme» einführt, zu verstehen: «Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es Systeme gibt» (2018a: 30).

Andererseits kann ein Beobachter eine Operation als Beobachtung beobachten, indem er die verwendete Unterscheidung einer Beobachtung beobachtet. Er beobachtet, wie bezeichnet bzw. referiert wird.

Auch mit dem Beobachten von Operationen als Beobachtungen beobachten Beobachter immer nur Beobachtungen von Welt. Selbst wenn mehrere Beobachtungen von Beobachtern konvergieren, resultiert daraus keine Realitätsgewissheit, sondern nur die Gewissheit, dass Kommunikation stattgefunden hat. Mit dem Beobachten von Beobachtungen konstruieren beobachtende Systeme ihre Wirklichkeit (operativer Konstruktivismus), die sich wiederum von ihrer operativen Realität unterscheidet.

Nach Luhmann hat deshalb die Frage, ob ein Beobachter sich täuscht oder nicht, nichts mit dem operativen Vollzug seiner Beobachtungen zu tun. Die Antwort auf diese Frage setzt vielmehr ein weiteres Beobachtungsschema (z.B.: richtig/falsch) voraus, mit der die Beobachtung des Beobachters beobachtet werden kann: «Wenn er sich täuscht, täuscht er sich eben real» (2018b.: 78).

Wenn wir im Weiteren von Realität sprechen, meinen wir Beobachtungen von Operationen als Beobachten, und wenn wir von Wirklichkeit sprechen, meinen wir Beobachtungen von Operationen als Beobachtungen.

^ ^ ^

˅ Beobachter und Beobachten

Wir greifen die oben eingeführte Unterscheidung von Beobachter und Beobachten auf und gehen im Folgenden näher auf sie ein.

In seiner «Einführung in die Systemtheorie» weist Luhmann mit Nachdruck darauf hin, dass es sich beim Beobachter nicht nur um Bewusstseinssysteme handle (vgl. 2020: 142). Er subsumiert unter dem Beobachterbegriff alle autopoietischen Systeme, die zur Gewinnung und Verarbeitung von Informationen auf Basis von Unterscheidungen operieren. Dazu zählen also auch Kommunikationssysteme. Mit Blick auf Betriebssysteme stellt sich für die nächste Gesellschaft die Frage, ob sie sich auf eine weitere Systemreferenz einzustellen hat.

Zwei-Seiten-Formen Beobachter und Beobachten

Beobachter können wir auffassen als die Einheit der Differenz von Operation und Struktur.

Nach Luhmann ist Beobachtung als autopoietische Operation zu verstehen (vgl. 2018b: 131). In sinnprozessierenden Systemen schliessen demnach neue Operationen des Beobachtens fortlaufend an vorangegangene Operationen des Beobachtens an. Aufgrund der Autopoiesis kommt es beim Beobachter zu einer operativen Schliessung und damit zu einer Abgrenzung von seiner Umwelt.

Da der operative Vollzug des Beobachtens eines Beobachters für andere Beobachter empirisch beobachtbar ist, erscheint er in der sozialen Welt als ein real existierendes System. Der Beobachter ist demnach ein Artefakt einer Zurechnung von Beobachtungen durch Beobachtungen.

Um ein fortlaufendes Beobachten sicherzustellen, muss der Beobachter ein strukturiertes System sein. Die Strukturen schränken ein, was der Beobachter beobachten kann. Sie bestimmen den Möglichkeitsspielraum verwendbarer Unterscheidungen und damit auch die Wirklichkeit des Beobachters.

Mit der internen Ausdifferenzierung von Strukturen unterscheidet sich der Beobachter von seiner Umwelt. Er markiert damit eine Grenze zu seiner Umwelt und bestimmt seine eigene Identität. «Beobachter», so Luhmann, «sind stets nur mit sich selbst identisch, weil sie über eine jeweils selbstgezogene Grenze beobachten, und andere Systeme können allenfalls Beobachter beobachten, wie sie beobachten, aber nicht an ihren Beobachtungen teilnehmen» (ebd: 79).

Während sich Realität auf den operativen Vollzug bezieht, bezieht sich Wirklichkeit auf die Konstruktion, den Erhalt und die Revision interner Strukturen. Wobei zwischen Strukturen (Wirklichkeitsbezug) und Operationen (Realitätsbezug) ein zeitlich rekursiver Zusammenhang besteht: Die Strukturen sinnprozessierender Systeme leiten deren Operationen, die die Strukturen wiederum entweder bestätigen oder revidieren.

Beobachten wiederum können wir als Einheit der Differenz von Unterscheiden und Bezeichnen auffassen.

Im Unterschied zu George Spencer-Brown verwendet Luhmann nicht den Begriff des Hinweisens («indication»), sondern den des Bezeichnens (vgl. ebd.: 79ff). Unterscheiden und Bezeichnen finden in einer und derselben Operation statt. Deshalb bring die Formulierung «unterscheidendes Bezeichnen» diese Operation präziser auf den Punkt.

Wie wir in der Diskussion der Zwei-Seiten-Form bereits gesehen haben, markiert ein Beobachter beim unterscheidenden Bezeichnen eine Grenze mit der Folge, dass zwei Seiten entstehen. Gleichzeitig bezeichnet er immer eine Seite der Grenze. Das Bezeichnen beider Seiten würde die getroffene Unterscheidung aufheben und also keinen Sinn ergeben. Deshalb sprechen wir mit Spencer-Brown immer von einer markierten Seite (m) und einer unmarkierten Seite (n) der Unterscheidung. Das bedeutet auch, selbst wenn die Form der Unterscheidung symmetrisch ist, kann ein Beobachter sie immer nur asymmetrisch verwenden.

Um von einer auf die andere Seite der Unterscheidung zu wechseln, muss der Beobachter die Grenze überschreiten («crossing»). Nach Luhmann beansprucht diese Operation Zeit. Zeit spielt in der Systemtheorie insofern eine zentrale Rolle, als sie nach Luhmann der Entparadoxierung von Paradoxien dient. Die Paradoxie, dass nicht beide Seiten einer Unterscheidung gleichzeitig bezeichnet werden können, löst die Zeit auf, indem sie dem Beobachter erlaubt, zwischen den zwei Seiten hin und her zu wechseln, um mal diese, mal die andere Seite bezeichnen zu können.

Beobachten als Unterscheiden und Bezeichnen ist für Luhmann ein Anwendungsfall einer viel allgemeineren Operationsweise, die der Evolution autopoietischer Systeme zugrunde liegt. Er bezeichnet diese Operationsweise als Überschussproduktion und Selektion (vgl. ebd.: 81f). Demnach produzieren autopoietische Systeme in ihrem operativen Vollzug immer mehr Möglichkeiten als sie tatsächlich verwenden können.

Mit Blick auf Kommunikationssysteme und Bewusstseinssysteme bedeutet dies, dass sich bei der Aktualisierung einer Kommunikation bzw. eines Gedankens immer weitere Möglichkeiten eröffnen, an denen nächste Kommunikationen bzw. Gedanken durch Selektion anschliessen können. In diesem Sinne produziert auch das Unterscheiden immer mehr Möglichkeiten als die, die dann tatsächlich bezeichnet wird.

Sinnprozessierende Systeme aktualisieren also laufend eine Unterscheidung und verweisen dabei immer auf andere Möglichkeiten mitgemeinter oder miterfasster Unterscheidungen. Deshalb meint Sinn immer sich selbst und einen mitgeführten Sinnüberschuss.

^ ^ ^

˅ Beobachtung und Differenz

Wie wir bei der Unterscheidung von Operation und Beobachtung gesehen haben, kann sich der Beobachter im Vollzug der Operation des Beobachtens nicht selbst beobachten. Er kann weder die von ihm verwendete Unterscheidung noch die durch sie erzeugte Differenz beobachten.

Eine Differenz bedeutet, dass sich innerhalb einer Unterscheidung die beiden Seiten der Unterscheidung durch unterschiedliche Werte unterscheiden. Wären sie gleichwertig, gäbe es kein Motiv, diese und nicht eine andere Unterscheidung zu treffen.

Und wie wir bei der Unterscheidung von Beobachter und Beobachten gesehen haben, entwickelt ein autopoietisches System interne Strukturen, um ein kontinuierliches Beobachten sicherzustellen und um Komplexität durch die Einschränkung möglicher Unterscheidungen zu reduzieren. Auf diese Weise konstruiert es eine eigene Identität vis-à-vis seiner Umwelt.

Die Ausdifferenzierung interner Strukturen ermöglicht zudem Beobachtungen, die sich auf die Identität des Beobachters bzw. auf die Einheit der Differenz von System und Umwelt beziehen. Diese Differenz wird als Unterscheidung wieder in das System eingeführt. Durch diese Reflexion gewinnt der Beobachter Orientierungswerte, die die interne Anschlussfähigkeit von Operationen und damit den Möglichkeitsspielraum von Unterscheidungen bestimmen (vgl. 2018b: 83).

Zwei-Seiten-Form System und Umwelt

Peter Fuchs weist in seinem Büchlein «Der Sinn der Beobachtung» darauf hin, dass die Wiedereinführung der Differenz von System und Umwelt in das System als eine Art von Selbsterrechnung des Systems als einen imaginären Wert zu verstehen sei (vgl. 2015: 16f). Damit schliesst er an Spencer-Brown an, der neben dem markierten und dem unmarkierten Zustand einen dritten, nämlich den imaginären Zustand einer Unterscheidung vorgeschlagen hat.

Wie wir aus der Diskussion der Zwei-Seiten-Form wissen, beginnt die Unterscheidung im imaginären Zustand zwischen den beiden Seiten der Unterscheidung, in unserem Fall also zwischen System und Umwelt, zu oszillieren. Im Oszillieren etabliert und stabilisiert sich das System und erzeugt seine eigene Systemzeit.

Daraus folgt nach Fuchs, dass Bewusstseins- und Kommunikationssysteme, insofern sie als Beobachter beobachtet werden, weniger als eigenständige Entitäten zu verstehen sind, sondern vielmehr als Ausdruck imaginärer Werte aufzufassen sind, mit denen gerechnet werden kann. In diesem Sinne kann der Beobachter – wie oben bereits erwähnt – als ein Artefakt einer Zurechnung von Beobachtungen durch Beobachtungen verstanden werden.

Da System und Umwelt eine Einheit bilden, kann man sie nicht separat beobachten, ohne in die klassische Semantik der Ontologie zurückzufallen: «Wird auf die Rückversicherung in Ontologie verzichtet, bleibt das System als Differenz. Es ist (wie jede Differenz) kein Ding, kein Subjekt, kein Objekt, keine Festigkeit. Ausser für einen Beobachter ist es: nichts. Systeme […] entziehen sich deshalb der Wahrnehmung. Noch nie hat jemand ein System gesehen. Der Ausdruck ‹Unjekt› steht für dieses Problem» (ebd.)

^ ^ ^

˅ Beobachtungen erster und zweiter Ordnung

Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen können wir nun die Beobachtungsverhältnisse genauer bestimmen.

Zwei-Seiten-Formen der Beobachtung

Bei der Beobachtung erster Ordnung macht ein Beobachter einen Unterschied, indem er eine Unterscheidung wählt und auf die markierte Innenseite hinweist. Es handelt sich dabei um den operativen Vollzug des Beobachtens.

Wie aus der Diskussion der Zwei-Seiten-Form bekannt, besteht ein vollkommener Zusammenhang zwischen der markierten Innenseite (m) und der unmarkierten Aussenseite (n) einer Unterscheidung. Obwohl die unmarkierte Aussenseite konstitutiv für die Unterscheidung ist, stellt sie für den Beobachter einen sogenannten blinden Fleck dar. Der Beobachter kann im Moment des operativen Vollzugs des Beobachtens nicht gleichzeitig auf beide Seiten der Unterscheidung hinweisen. Luhmann bringt diesen Sachverhalt auf die Formel: «Es (das Beobachten, Anm. CMS) kann nur sehen, was es mit dieser Unterscheidung sehen kann. Es kann nicht sehen, was es nicht sehen kann» (2018b: 85).

Die Beobachtung erster Ordnung nimmt immer die Unterscheidung der Form in den Blick, die aus einer Grenze, der markierten Innenseite (m) und der blind mitlaufenden unmarkierten Aussenseite (n) besteht.

Bei der Beobachtung zweiter Ordnung beobachtet ein Beobachter mit Hilfe einer anderen Unterscheidung eine Beobachtung erster Ordnung, indem er auf sie hinweist und ihre Differenz thematisiert. Dies ist bei der Beobachtung erster Ordnung nicht möglich. Daher kann nur eine Beobachtung zweiter Ordnung den blinden Fleck einer Beobachtung erster Ordnung sichtbar machen.

Wie wir ebenfalls aus der Diskussion der Zwei-Seiten-Form wissen, markiert eine Unterscheidung ihrerseits eine Grenze innerhalb des Möglichkeitsspielraums anderer Unterscheidungen. Deshalb kann die Aussenseite der Unterscheidung auch als unmarkiert (n) ausgezeichnet werden.

Beobachtet nun ein Beobachter mit Hilfe einer aus dem Möglichkeitsspielraum von Unterscheidungen gewählten Unterscheidung eine Beobachtung erster Ordnung, dann verfügt auch die Beobachtung zweiter Ordnung über einen blinden Fleck. Luhmann bezeichnet diesen Sachverhalt mit dem Begriff der operativen Naivität des Beobachtens: «[…] man kann auch sagen, dass alles Beobachten, auch das Beobachten von Beobachtungen, auf der operativen Ebene naiv verfährt; oder mit nochmals anderen Worten: dass es in Bezug auf die eigene Referenz unkritisch vergeht» (ebd.)

Eine Beobachtung zweiter Ordnung kann entweder aus einer selbstreferenziellen Perspektive (Selbstbeobachtung) oder aus einer fremdreferenziellen Perspektive (Fremdbeobachtung) erfolgen. In letzterem Fall ist die Fremdbeobachtung nur unter Rückgriff auf eigene Beobachtungen bzw. Unterscheidungen möglich. Beobachtungen zweiter Ordnungen sind immer rekursive Operationen, weil sie sich auf vorangegangene Beobachtungen erster Ordnung beziehen.

Die Beobachtung zweiter Ordnung nimmt mit Hilfe einer anderen Unterscheidung immer die Form der Unterscheidung der Beobachtung erster Ordnung in den Blick, die aus einer Grenze, der markierten Innenseite (m) und der unmarkierten Aussenseite (n) sowie der blind mitlaufenden anderen Formen der Unterscheidung (n) besteht.

Bei der Reflexion handelt es sich um einen Spezialfall der Selbstbeobachtung. Wie wir bei der Unterscheidung von Beobachtung und Differenz gesehen haben, ermöglicht die Ausdifferenzierung interner Strukturen dem Beobachter Beobachtungen durchzuführen, die sich auf seine Identität bzw. auf die Einheit der Differenz von System und Umwelt beziehen.

Die Reflexion kommt durch eine Wiedereinführung der Unterscheidung der Form in die Form der Unterscheidung zustande. Das bedeutet, dass die Operation der Wiedereinführung eine Unterscheidung aus einer doppelten Perspektive verwendet. Die Unterscheidung der Form weist als Beobachtung erster Ordnung auf eine aktuell markierte Seite hin. Und die Form der Unterscheidung nimmt als Beobachtung zweiter Ordnung beide Seiten der Unterscheidung in den Blick. Die Wiedereinführung der aktuellen Unterscheidung in die Form der Unterscheidung ermöglicht die Beobachtung, wie die aktuelle Unterscheidung durchgeführt wird.

Erst diese dritte Möglichkeit, die Reflexion, erlaubt es einem System, zwischen Unterscheidungen, die sich nicht auf die Unterscheidung von System und Umwelt beziehen, und Unterscheidungen, die die Unterscheidung von System und Umwelt durchführen, zu unterscheiden. Erst mit dieser speziellen Art der Selbstbeobachtung kann das System eine Grenze ziehen und sich selbst als Einheit bezeichnen – eine Einheit, die sich in sich selbst von sich selbst unterscheiden kann und sich selbst von seiner Umwelt.

^ ^ ^

Sinn

Sinn ist nach Niklas Luhmann eine unhintergehbare Voraussetzung des Erlebens und Handelns. Er bildet das Universalmedium, in dem psychische Systeme mittels Gedanken und soziale Systeme mittels Kommunikation operieren. Als gemeinsame Errungenschaft ist Sinn auf dem Wege der Koevolution psychischer und sozialer Systeme entstanden.

Sinn ist also nichts, was in der Welt gegeben ist. Weder Subjekte noch Objekte sind Träger von Sinn. Sinn wird produziert und reproduziert durch psychische und soziale Systeme. Würden sie aufhören, Sinn zu prozessieren, verschwände Sinn aus der Welt und mit ihm der Weltbegriff selbst.

Luhmann nähert sich dem Sinnbegriff aus verschiedenen theoretischen Perspektiven, die im Folgenden kurz skizziert werden (vgl. 2018a: 98ff, 2015: 44ff).

˅ Sinn als unnegierbare Kategorie

Luhmann definiert Begriffe mit Hilfe der Zwei-Seiten-Form durch unterscheidendes Bezeichnen, beispielsweise: x bedeutet dies und nichts anderes. Damit gewinnt der einzelne Begriff im Kontext anderer möglicher Unterscheidungen an Schärfe. Wie aber verhält es sich mit dem unterscheidenden Bezeichnen hinsichtlich des Sinnbegriffs?

Nach Luhmann bildet der Sinnbegriff eine Ausnahme. Denn er ist unnegierbar: Wollte man Sinn sprachlich negieren, müsste man dazu Sinn beanspruchen. «Sinn», so Luhmann, «ist also eine unnegierbare, eine differenzlose Kategorie» (2018a: 96).

Wenn Sinn sich in der Zwei-Seiten-Form nicht von der unmarkierten Aussenseite her bestimmen lässt, wie gewinnt der Begriff dennoch an Schärfe? Luhmann wählt den Weg, die markierte Innenseite der Unterscheidung, den Sinn, weiter auszudifferenzieren. Der Sinnbegriff bestimmt sich also durch Binnendifferenzierungen.

^ ^ ^

˅ Sinn als Differenz von Aktualität und Möglichkeit

Im Anschluss an Edmund Husserls Phänomenologie nimmt Luhmann eine erste Binnendifferenzierung vor und führt die Unterscheidung zwischen Aktualität und Möglichkeit ein.

Zwei-Seiten-Form der Sinnform 1

Psychische Systeme prozessieren Sinn immer intentional. Sie richten ihre Gedanken auf etwas Bestimmtes und schliessen dabei mögliche andere Bestimmtheiten aus. Analoges gilt für soziale Systeme. In jeder Kommunikation wird etwas Bestimmtes thematisiert, während Anderes im Horizont der Möglichkeiten bleibt. Sinnprozessierende Systeme aktualisieren also laufend Bestimmtes und verweisen dabei immer auf andere Möglichkeiten mitgemeinter oder miterfasster Bestimmtheiten. Deshalb meint Sinn immer sich selbst und einen mitgeführten Sinnüberschuss.

Sinnüberschuss, so Dirk Baecker in seinem Aufsatz «Niklas Luhmann und die Kultursoziologie», meint, «dass in jeder Situation, in der ein bestimmter Sinn in Anspruch genommen wird, an dem sich eine Handlung oder eine Kommunikation orientiert, der Sinn anderer Situationen alternativ zur Verfügung steht und auf irgendeine Art und Weise, sei es annehmend oder ablehnend, berücksichtigt werden muss» (2019a: 6).

Aus dieser Binnendifferenzierung ergibt sich die Sinnform1, nämlich die Einheit der Differenz von Aktualität und Möglichkeit.

Mit Blick auf die Differenztheorie hält Luhmann zudem fest, dass die Operationsfähigkeit von Sinn nur durch die Wiedereinführung der Sinnform in die Sinnform gegeben ist. Das bedeutet, dass eine aktuelle Bestimmtheit aufnahmefähig sein muss für die jeweils getroffene Unterscheidung zwischen Aktualität (Sinn) und Möglichkeit (Sinnüberschuss). Diese Aufnahmefähigkeit erlaubt es, die Anschlussmöglichkeiten nächster Sinnformen vorzuselektionieren. «Auf diese Weise», so Luhmann, «wird Sinn zu einem sich selbst laufend regenerierenden Medium für die laufende Selektion bestimmter Formen» (2015: 58).

^ ^ ^

˅ Sinn als Differenz von Medium und Form

Im Anschluss an Fritz Heiders Untersuchungen über Wahrnehmungsmedien nimmt Luhmann eine zweite Binnendifferenzierung vor und führt die Unterscheidung zwischen Medium und Form ein (vgl. 2015: 190ff).

Zwei-Seiten-Form der Sinnform 2

Ein Medium besteht nach Luhmann aus einer losen gekoppelten Menge von bestimmten Elementen, die sich nach bestimmten Selektionen zu strikt gekoppelten Elementen verknüpfen lassen und damit eine Form bilden. Wobei das Medium qua Medium die möglichen Selektionen immer schon limitiert, um die Beliebigkeit von Verknüpfungen einzuschränken. Gleichzeitig aber weitet es die Selektionsmöglichkeiten aus, weil es Formen vorschlägt und die Bildung von Formen anregt. Es ist also gleichzeitig eine Schliessung von und eine Öffnung für Selektionen.

Aus der zweiten Binnendifferenzierung ergibt sich die Sinnform2, nämlich die Einheit der Differenz von Medium und Form.

So erlaubt beispielsweise die lose gekoppelte Menge von Worten unter Einhaltung der Regeln der Syntax die verständliche Formulierung von ganzen Sätzen. Nicht unwichtig dabei ist, dass sich im Verlauf der Zeit der Gebrauch des Mediums und damit auch die Anwendung der Selektionsregeln – in unseren Beispielen der Syntax – verändern können.

Das Beispiel der natürlichen Sprache weist auf zentrale Aspekte der Unterscheidung von Medium und Form hin. Erstens – und das ist typische für Unterscheidungen in Zwei-Seiten-Formen – bedingen sich Medium und Form gegenseitig. Ein Medium ist nicht ohne seine Formen und Formen sind nicht ohne ihr Medium denkbar. Ohne Worte, keine Sätze. Und ohne Sätze, keine Worte.

Zudem teilen sich Medium und Form dieselben Elemente, beispielsweise Worte. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang auch von «medialem Substrat». Der Unterschied zwischen Medium und Form besteht allein in Bezug auf die Art der Kopplung, lose oder strikte Kopplung.

Weiter lassen sich die Elemente eines medialen Substrats als Formen eines ihm zugrundeliegenden einfacheren Mediums interpretieren. So können Worte im Medium der mündlichen Sprache als mediales Substrat und im Medium der Lautlichkeit als Form aufgefasst werden. Und umgekehrt können die Formen eines Mediums als mediales Substrat eines höherstufigen Mediums fungieren. So bilden die Sätze als Formen der mündlichen Sprache das mediale Substrat im Medium der Rede.

Auch sind Formen flüchtig und instabil, während das Medium dauerhaft und stabil ist. Dies zeigt sich typischerweise am Medium der mündlichen Sprache. Einmal ausgesprochene Sätze verhallen nur allzu schnell, während die unausgesprochenen Worte von dauerhaftem Bestand sind.

Sodann manifestiert sich der Gebrauch eines Mediums in einem Prozess des Koppelns und Entkoppelns. Psychische Systeme richten ihre Gedanken bald auf dies, bald auf jenes. Und soziale Systeme thematisieren in Kommunikationen mal dies, mal das.

Schliesslich zeichnet sich das Medium durch einen unsichtbaren, virtuellen Charakter aus. Medium ist unbestimmte Potenzialität. Diese wird erst durch Formbildung temporär aktualisiert und wahrnehmbar. Form ist demnach bestimmte Aktualität. Beispielsweise werden in der mündlichen Sprache nicht die einzelnen, rasch über die Lippen purzelnden Worte (Medium), sondern vielmehr der temporär aktualisierte Sinn der Sätze (Formen) verstanden.

^ ^ ^

˅ Sinndimensionen

Wie wir bei der Bestimmung von Sinn als Differenz von Aktualität und Möglichkeit gesehen haben, aktualisieren sinnprozessierende Systeme etwas Bestimmtes und verweisen dabei immer auf andere Möglichkeiten mitgemeinter oder miterfasster Bestimmtheiten. Dieser Sinnüberschuss lässt sich in drei Dimensionen unterscheiden.

Die Verweisung auf andere sachliche Sinngehalte (Sachdimension), die Verweisung auf Vergangenes oder Künftiges (Zeitdimension) und die Verweisung auf andere Personen (Sozialdimension).

Hinterlassen Sie einen Kommentar