Fussnoten

Fussnote 1 – Medienepochen

These

Das Leitmedium der nächsten Gesellschaft ist der Computer. Wie zuvor die Mündlichkeit, die Schriftlichkeit und der Buchdruck markiert auch der Computer den Übergang in eine neue Medienepoche.

Für die Beobachtung und Beschreibung historischer Entwicklungen gibt es unterschiedliche Perspektiven. Auch wenn wir im Folgenden den Begriff der Medienepochen einführen, nehmen wir keine Perspektive im Sinne der klassischen Geschichtsschreibung ein. Stattdessen interessiert uns im Rahmen der systemtheoretischen Kommunikations- und Medientheorie, wie gesellschaftliche Strukturveränderungen entstehen und wie diese als historische Einheit aufgefasst werden können.

˅ Medienepochen

Die Konturen des Konzepts der Medienepochen werden deutlicher, wenn wir zunächst zwischen Evolutionstheorie und Geschichtsschreibung unterscheiden (vgl. Luhmann, 1997, S. 569 – 576; 2005, S. 187 – 211).

Die klassische Geschichtsschreibung verbindet historische Erzählungen häufig mit kausalen Erklärungen, um neues Wissen über die Gesellschaft zu generieren. Im Gegensatz dazu basiert die gesellschaftliche Evolutionstheorie auf der Annahme zirkulärer und evolutionärer Prozesse, die strukturelle Veränderungen in der Gesellschaft bewirken. Das Hauptinteresse dieser Theorie konzentriert sich daher auf die Beobachtung und Beschreibung der Bedingungen und Folgen dieser Strukturveränderungen.

Während die Geschichtsschreibung wichtige Ereignisse im Kontext der Differenz von vorher und nachher beobachtet und die Einheit dieser Differenz als historische Ereignisse oder Epochen festhält, konzentriert sich die gesellschaftliche Evolutionstheorie auf den Strukturwandel. Zwar erreicht sie damit nicht dieselbe Art von Theorieleistung wie die Geschichtsschreibung. Sie kann aber einen wertvollen Beitrag zur Beobachtung und Beschreibung der historischen Einheit der Differenz von vorher und nachher leisten, besonders in Verbindung mit Systemtheorie, Kommunikations- und Medientheorie.

Die soziokulturelle Evolutionstheorie im systemtheoretischen Sinne beobachtet und beschreibt die Entwicklung sozialer Systeme wie Gesellschaft, Organisation und Interaktion. Als operativ geschlossene autopoietische Systeme reproduzieren sich soziale Systeme in der Gegenwart. Für ihre blosse Reproduktion benötigen sie keine Geschichte, also keine Differenzierung von vorher und nachher. Damit die Reproduktion dennoch erwartbaren Bahnen verläuft, benutzen soziale Systeme ein Gedächtnis. Es prüft anlaufende Operationen auf ihre Konsistenz mit vergangenen Operationen. In diesem Sinne orientieren sich soziale Systeme immer an der unmittelbaren Vergangenheit und der gegenwärtigen Zukunft.

Diese kurze Beschreibung erlaubt es, den Unterschied zwischen Evolution und Geschichte anhand der soziokulturellen Evolutionstheorie noch einmal aufzugreifen (vgl. Luhmann, 2005, S. 193 – 198).

Die allgemeine gesellschaftliche Evolutionstheorie abstrahiert davon, dass evoluierende soziale Systeme zu jedem Zeitpunkt ihrer Entwicklung in einem vollständig konkretisierten Zustand existieren. Demgegenüber vertritt die soziokulturelle Evolutionstheorie die Auffassung, dass Evolution nur im Anschluss an konkrete Systemzustände stattfinden kann. Diese Auffassung führt zur Unterscheidung zweier Beobachtungsebenen.

In der aktuellen Gegenwart reproduzieren soziale Systeme ihre Strukturen, indem sich ihre Operationen an der unmittelbaren Vergangenheit und der gegenwärtigen Zukunft orientieren. In einem Interaktionssystem beispielsweise schliessen Redebeiträge innerhalb eines Themas fortdauernd an Redebeiträge an. Die durch die unmittelbare Vergangenheit bestimmte Wirklichkeit des Systems eröffnet immer wieder neue Anschlussmöglichkeiten in der gegenwärtigen Zukunft.

Die Wirklichkeit bildet die Grundlage dafür, dass nicht alles auf einmal geändert wird. Vor dem Hintergrund der Einheit der Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit sichert die Autopoiesis immer die Kontinuität und Diskontinuität eines Systems. Das Interaktionssystem kann bei einem Thema bleiben oder es wechseln. Auf dieser Beobachtungsebene des operativen Vollzugs der Autopoiesis können soziale Systeme nicht eigenständig evoluieren. Dennoch bieten die Strukturen sozialer Systeme Raum für evolutionäre Veränderungen.

Wechseln wir die Beobachtungsebene auf die Evolution, so stellen wir zunächst fest, dass soziale Systeme ihre Strukturen allein aufgrund von Irritationen in ihrer Umwelt verändern. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Einführung des Computers, die zu tiefgreifenden Veränderungen in der Umwelt von Kommunikationssystemen geführt hat. Der Computer ermöglicht in Interaktionssystemen eine Kommunikation unter abwesenden Anwesenden, bei der die Teilnehmenden zwar physisch abwesend, aber über Computer kommunikativ verbunden sind. Diese neuen Möglichkeiten können zu strukturellen Veränderungen in Interaktionssystemen führen.

Wenn historische Entwicklungen nicht als Einheit kausaler Prozesse, sondern als Einheit der Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit aufgefasst werden, eröffnen sich neue Perspektiven auf die Evolution sozialer Systeme. Eine wesentliche Rolle spielt dabei der Begriff der Kontingenz. Er verdeutlicht, dass weder die Wirklichkeit (nichts ist notwendig) noch die Möglichkeit (nichts ist unmöglich) kausal determiniert sind, sondern Ergebnisse von Selektionen darstellen. Damit wird betont, dass das Wirkliche auch anders möglich sein könnte. Dementsprechend sollte auch Interaktion unter abwesenden Anwesenden möglich sein – nur anders als bisher.

Da die elementare Operation sozialer Systeme die Kommunikation ist, findet Irritation nur im Medium der Sprache statt. In der computervermittelten Interaktion, um im Beispiel zu bleiben, kann eine Beschwerde über unerwartet lange Antwortzeiten auf Fragen zu Irritationen führen. Selegiert das vermittelte Interaktionssystem diese Irritation und entscheidet daraufhin darüber, ob im System eine Strukturänderung in der Zeitdimension vorgenommen wird oder nicht, dann findet Evolution statt. Solche kleinen Schritte können im Prozess der soziokulturellen Evolution zu grossen evolutionären Errungenschaften führen.

Evolutionäre Errungenschaften zeichnen sich durch zwei Bewertungskriterien aus. Zum einen müssen sie zur Lösung von Problemen geeignet sein. Die Einführung der Schrift vor etwa 5000 Jahren diente zunächst der Speicherung von Informationen, bevor sie sich auch zur Kommunikation unter Abwesenden etablierte. Zum anderen müssen sie einen evolutionären Vorteil bieten, der sich durch die Reduktion von Komplexität zur Steigerung einer höheren Ordnung von Komplexität auszeichnet. Die Schrift reduzierte Komplexität, indem sie die Überlieferung von Informationen vereinfachte und die Beschränkungen der mündlichen Kommunikation unter Anwesenden aufhob. Dadurch wurde eine Ausweitung der Kommunikation über grössere räumliche und zeitliche Dimensionen möglich.

Bemerkenswert an den evolutionären Errungenschaften ist, dass sie oft nicht direkt zur Lösung eines bereits bekannten Problems beitragen, sondern dass sowohl die Probleme als auch die Lösungen erst mit der Errungenschaft selbst entstehen. Wenn die Schrift, ursprünglich zur Speicherung von Informationen eingeführt, auch für Kommunikationszwecke genutzt wird, führt dies beispielsweise zum Problem der sogenannten Selbstautorisation des Geschriebenen. Nach Luhmann (1997, S. 258) muss dann eine neue Form der Glaubwürdigkeit hergestellt werden, die unabhängig von der physischen Anwesenheit des Schreibenden gilt.

Wenn es «epochemachende» Errungenschaften gibt, dann sind es nach Luhmann (1997, S. 515) die Verbreitungsmedien der Kommunikation (Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Buchdruck, Computer) und die Formen der Systemdifferenzierung /Segmentierung, Zentrum/Peripherie-Differenz, Stratifikation, funktionale Differenzierung). Luhmann betont, dass sich aus diesen Unterscheidungen nicht unmittelbar Epochenstrukturen ableiten lassen. Gleichwohl würden die Zusammenhänge zwischen Verbreitungsmedien und Systemdifferenzierung dazu verleiten, bestimmte Epochenstrukturen zu interpretieren. Mit groben Vereinfachungen könnte ein Beobachter dann verschiedene Kulturen und Differenzierungsformen unterscheiden.

Baecker (vgl. 2007, 2018) hat das Konzept der Medienepochen in seinen Studien und Schriften weiterentwickelt. Dabei betont er immer wieder den heuristischen Wert der Hypothese, dass die Einführung eines neuen Verbreitungsmediums sowohl die Struktur- als auch die Kulturformen der Gesellschaft verändert und damit einen evolutionären Prozess der gesellschaftlichen Neugestaltung auslöst. Auch ihm geht es nicht um Geschichtsschreibung im klassischen Sinne. Das Konzept der Medienepochen dient vielmehr dazu, ein tieferes Verständnis für die Transformationsprozesse zu gewinnen, mit denen wir es auf der Schwelle zur nächsten Gesellschaft zu tun haben.

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Informationsverarbeitung ist immer ein interner Prozess von Sender und Empfänger. Damit Kommunikation als ein Selektionsprozess von Information, Mitteilung und Verstehen dennoch zustande kommen kann, braucht es ein «System höherer Ordnung», das Kontakte zwischen Personen zulässt (Luhmann, 1997, S. 194). Damit ist die Gesellschaft als das umfassendste Sozialsystem gemeint, die – wie eingangs erwähnt – aus Kommunikationen besteht.

Da der Begriff der Übertragung im Zusammenhang mit Kommunikationsmedien wenig plausibel erscheint, ersetzt ihn die soziologische Systemtheorie durch die Unterscheidung von Medium und Form. Die Abkehr von der ontologischen Suche nach dem zu übermittelnden Etwas hin zur Differenz von Medium und Form ermöglicht eine komplexere Beobachtung und Beschreibung des Kommunikationsprozesses.

˅ Medium und Form

Kommunikation ist das Prozessieren der Differenz von Medium und Form. Was das genau bedeutet, werden wir in diesem Unterkapitel klären (vgl. Luhmann, 1997, S. 195-202). Zuvor wollen wir einige allgemeine Bemerkungen zur Differenz von Medium und Form anbringen.

Der Begriff des Mediums nimmt in der soziologischen Systemtheorie eine zentrale Stellung ein. Von Luhmann im Anschluss an Fritz Heiders Untersuchungen über Wahrnehmungsmedien und an George Spencer-Browns Zwei-Seiten-Form entwickelt, unterscheidet er sich klar vom Medienbegriff der klassischen Medienwissenschaften.

Das Prozessieren der Differenz von Medium und Form ist ein systeminterner Sachverhalt. Im Fall von sinnprozessierenden Systemen sind dies psychische und soziale Systeme. Beide reduzieren und strukturieren Komplexität, die aus den Elementen eines Systems und deren Relationierung besteht.

Die systeminterne Handhabung von Komplexität lässt sich dekomponieren durch die Unterscheidung von Medium und Form sowie durch die Unterscheidung von loser und strikter Kopplung. Letztere Unterscheidung geht davon aus, dass nicht jedes Element in einem System mit einem anderen Element gekoppelt werden kann. Deshalb braucht zusätzlich die Unterscheidung von Medium und Form, die Selektionskriterien für die Kopplung von Elementen vorgibt und damit die Schaffung sowie Aufrechterhaltung einer internen Ordnung ermöglicht.

Wenn wir nun die Unterscheidung von Medium und Form näher betrachten, so tun wir dies am Beispiel der natürlichen Sprache. Einerseits wird sie von psychischen und sozialen Systemen genutzt. Dies macht andererseits die folgenden Ausführungen anschaulicher.

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Leitmedium

Für den Begriff Medium gibt es keine abschliessende Definition. Er wird je nach Kontext unterschiedlich verwendet. Auch der Unterschied zwischen Medium und Leitmedium ist nicht so trennscharf. Daher nehmen wir an dieser Stelle konzeptionelle und semantische Setzungen vor, um den Begriff des Leitmediums zu schärfen und uns mit diesem geschärften Begriff dem Phänomen des Leitmedienwechsels zu nähern.

Im Anschluss an Fritz Heiders Aufsatz «Ding und Medium» aus dem Jahr 1926 hat Niklas Luhmann eine systemtheoretische Medientheorie entwickelt. Darin spielt die Unterscheidung von Medium und Form eine zentrale Rolle. Im Kontext der Kommunikation umfasst der von Luhmann spezifizierte Medienbegriff drei Medientypen, die die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation wahrscheinlich machen (vgl. 1997: 190 ff.). So macht das Kommunikationsmedium Sprache das Verstehen, die Verbreitungsmedien das Erreichen und die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien wie Macht, Geld, Wahrheit oder Liebe den Erfolg von Kommunikation wahrscheinlich.

Jochen Hörisch schlägt in seinem Buch «Bedeutsamkeit» vor, ein Leitmedium als ein «Massenmedium» zu verstehen, «das zu einer bestimmten Zeit (häufig auch in einer langandauernden Epoche) in einem bestimmten Raum (das können mehrere Weltecken zugleich sein) teilnahmepflichtig bzw. nur um den Preis scharfer Sanktionen vermeidbar ist» (2009: 269). Ein Leitmedium zeichnet sich nach dieser Definition durch Teilnahmepflicht aus. Oder mit anderen Worten: Die Verweigerung der Teilnahme an einem Leitmedium kann zum Selbstausschluss (Selbst-Exkommunikation) aus der Gesellschaft führen.

Hinsichtlich der drei Medientypen vermuten wir, dass die Verweigerung der Teilnahme am Kommunikationsmedium Sprache und an einem der Verbreitungsmedien einem Selbstausschluss aus der Gesellschaft näherkommt als die Verweigerung eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums. Letzteres führt allenfalls zum Ausschluss aus einem bestimmten sozialen (Funktions-)System.

Wenn wir im Folgenden von Leitmedien oder Leitmedienwechsel sprechen, meinen wir daher neben der Sprache als grundlegendem Kommunikationsmedium auch die Verbreitungsmedien, die zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten geographischen Raum teilnahmepflichtig geworden sind.

Leitmedienwechsel

Luhmann diskutiert in «Die Gesellschaft der Gesellschaft» vier Leitmedienwechsel: den Wechsel von nonverbaler Kommunikation zur Sprache, von Sprache zur Schrift, von Schrift zum Buchdruck und vom Buchdruck zu elektronischen Medien. Letztere werden wir unter dem Titel «Computer» behandeln.

Die Einführung eines neuen Leitmediums bedeutet nicht, dass vorangehende Leitmedien verschwinden. Schrift und Buchdruck sind im Sinne der Teilnahmepflicht auch heute noch relevant. Es ist aber davon auszugehen, dass sie relativ zum Computer in der Gesellschaft eine weniger dominante und eine andere Aufgabe wahrnehmen werden. Die Medienwissenschaft diskutiert diese These unter dem Titel «Rieplsches Gesetz».

Die Sprache als grundlegendes Kommunikationsmedium nimmt im Kontext der Leitmedienwechsel eine Sonderstellung ein, weil sie die Autopoiesis der Gesellschaft garantiert. Ihre Einführung markierte den Übergang von der nonverbalen zur verbalen Kommunikation und schuf die Voraussetzung für die Ausdifferenzierung der Verbreitungsmedien. Die Einführung der Sprache ermöglichte die mündliche Kommunikation zwischen Anwesenden.

˅ Sprache

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˅ Schrift

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˅ Buchdruck

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˅ Computer

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Medienkatastrophe

Da ein neues Leitmedium immer mehr Sinn produziert, als die Gesellschaft verarbeiten kann, spricht man mit Blick auf einen Leitmedienwechsel auch von einer Medienkatastrophe. Sie beginnt mit dem Aufbrechen bestehender Strukturen und der Infragestellung tradierter Kulturformen und endet mit deren Restabilisierung.

In seinen «Studien zur nächsten Gesellschaft» schreibt Dirk Baecker in diesem Zusammenhang: «In jeder dieser Katastrophen explodierte der von der Gesellschaft zu bearbeitende Überschusssinn und es mussten […] Kulturformen gefunden werden, die es ermöglichen, diesen Überschusssinn nach Bedarf und Fähigkeit entweder selektiv abzulehnen oder positiv aufzunehmen» (2007: S.34).

In «4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt» wiederholt er: «Die spezifische Herausforderung liegt darin, dass eine Gesellschaft Strukturen entwickeln muss, die die Verwendung dieser Medien [gemeint sind Verbreitungsmedien der Kommunikation, Anm. CMS] an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft sicherstellen, das heisst sowohl ermöglichen als auch einschränken. Keine Gesellschaft lässt zu, dass Medien beliebig verwendet werden» (2018: S.26f).

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